Rudi Kölmel, 24.November 2008

 

Brecht im Dreieck zwischen der Macht, der Figur des Galilei und sich selbst

 

I. Entstehen des Werkes unter dem Eindruck der Zeitgeschichte

1. dänische Fassung (1938/1939)

 

Brecht verwandte die historische Figur des Galilei in seiner ersten dänischen Fassung stellvertretend für eine grundsätzliche Wissenschaftskritik.

 

Dies ging einher mit einer veröffentlichten Meldung über die Spaltung des Atoms und den dadurch drohenden Bau einer Atombombe.

 

Brecht warf Galilei den Widerruf seines Bekenntnisses zum heliozentrischen Weltbild vor. Ein Bestehen auf dem Bekenntnis hätte aber der Wissenschaft zu der neuen Rolle verhelfen können. In diesem neuen Weltbild hätte die Wissenschaft nicht nur dem Fortschritt, sondern auch direkt einer Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen dienen können. Durch den Widerruf konnte die Wissenschaft aber weiter ein Werkzeug der Mächtigen und der Unterdrücker sein. Galileis Versagen war für Brecht also der Sündenfall der modernen Wissenschaft.

 

Der Widerruf war aus Brechts Sicht eine Andienung an die Mächtigen und die Kirche und damit eine Unterstützungshandlung für die weitere Unterdrückung.

 

Er verordnete Galilei bereits im 14. Bild der ersten Fassung eine Selbstanklage an sich selbst als verantwortlichen Wissenschaftler.

 

Ein versöhnlicher Ton besteht darin, dass Brecht der im Verborgenen entstandenen wissenschaftlichen Arbeit der „Diskorsi“ nach dem Widerruf des Bekenntnisses doch noch Positives abringen konnte, nachdem das Werk durch Andrea ins Ausland gelangte.

Dieses nach „außen gelangen“ war ein Sieg der Vernunft, der Widerruf erschien unfreiwillig als gelungene List. Das Werk „Diskorsi“ sollte später für Isaak Newton die Grundlage für die Gravitationsgesetze bilden.

 

2. amerikanische Fassung (1945-1947)

 

Brecht übersiedelte 1941 nach Amerika. Bei der zweiten Fassung, die dort zwischen 1945 und 1947 entstand, veranlasste ihn der Abwurf der beiden Atombomben auf Japan im Jahre 1945 zu einer Umschreibung der ersten Fassung.

 

Nachdem die Atombombe als Werkzeug der Wissenschaft in der Hand der Mächtigen zum hunderttausendfachen Tod Unschuldiger geführt hat, sollte nun Galilei mit einer „Verschlechterung seiner Rolle“ in seinem Erstwerk büßen.

 

Brecht stigmatisierte Galilei erstaunlicherweise als „sozialen Verbrecher“, dazu benutzte er innerhalb der Modi des epischen Theaters den „Verfremdungseffekt“.

 

Er sah sich in seinen eigenen Vorahnungen darin bestätigt, dass wissenschaftlicher Fortschritt allzu oft mit den Friedensinteressen der Menschen kollidieren. Galilei wurde für ihn nun zum Verräter, der sich mit Hilfe des Eisengießers Vanni durch Flucht vor der Inquisition hätte retten können, dies aber nicht tat.

 

Das erinnert mich an Sokrates, dem auch die Flucht angeboten wurde, der sich aber für den Prozess gegen ihn entschied und das Todesurteil annahm.

 

3. DDR-Fassung (1954-1956)

 

Nach dem zweiten Weltkrieg war Brecht in den Vereinigten Staaten als bekennender Marxist im Fadenkreuz der amerikanischen Kommunistenjäger. Im Jahre 1949 übersiedelte er in die DDR, nachdem ihm dort von den „Mächtigen“ ein eigenes Theater, das Berliner Ensemble, zur Verfügung gestellt wurde.

Es war eigentlich eine Rückübersetzung ins Deutsche mit noch leichten Verschärfungen durch die vergleichende Darstellung des hypokratischen Eides. Darin wiederholt er die Selbstanklage, dass durch seinen Widerstand die Wissenschaft so etwas ähnlich Gewaltiges wie die Medizin beim hypokratischen Eid hervorgebracht hätte.

 

Gerade unter dem Eindruck des „Kalten Krieges“ und eines drohenden dritten Weltkrieges ließ er seine Hauptfigur auch weiter als sozialer Verbrecher leiden.

Ach ja, ich kann mich übrigens nicht erinnern, dass Herr Brecht sich etwa gegen russische oberirdische Atombombenversuche in der kasachischen Steppe engagiert hätte.

 

II. Galilei und Brecht, wie ich es sehe

 

Brecht erwartete von Galilei das Bestehen auf seiner wissenschaftlichen Erkenntnis und zwangsläufig dadurch auch die rückwirkende Inkaufnahme des Foltertodes durch die heilige Inquisition.

 

Galilei lebte in einer Diktatur, Brecht ab 1933 ebenso. Brecht war durch seine Werke bewusst, dass er im Fadenkreuz der Gestapo war, deshalb flüchtete er. Brecht muss sich die Medizin, die er Galilei einschenkte, nun aber selbst einschenken lassen.

 

Deshalb stelle ich ihm, stellvertretend für den toten Galilei, die Gegenfrage, weshalb er bei den Nazis nicht selbst standhaft für seine Werke eingetreten ist. Seine eigenen Argumentationsgirlanden im Fall „Galilei“ zu Hilfe nehmend, behaupte ich, dass er durch seine Überzeugungsfähigkeit dem kleinen Bürger den Schleier der Indoktrination durch die Nazis hätte wegziehen und das Dritte Reich nicht dieses verheerende Unrecht hätte ausüben können.

 

Brecht würde dann wohl antworten, dann hätten sie mich gefoltert und getötet!

 

Schön, also jetzt bin ich auf eine Gemeinsamkeit unserer Helden gestoßen. Beide wollten anscheinend nicht sterben, verständlich.

 

Soweit Brecht seine Hauptfigur in der zweiten Fassung als „sozialen Verbrecher“ stigmatisierte, könnte der Galilei den Brecht als politischen Verbrecher bezeichnen, der den politisch Ungebildeten durch seinen eigenen Widerstand kein „neues Denken“ ermöglichte.

 

Interessant und irgendwie bieder menschlich wird die Figur Brechts, soweit er sich wegen eines Theaterbaus korrumpieren ließ, dies war der Köder der Mächtigen. Während Galilei immer in einer Diktatur lebte, wählte Brecht die Diktatur, als er 1949 in die DDR zog.

 

Später bewegte er sich meines Erachtens in Richtung eines ethischen Gesinnungsunwertes, als er den internationalen Stalin-Friedenspreis annahm.

Weshalb hat er dies getan, etwa weil er tatsächlich der Überzeugung, war, dass Stalin in irgendeiner Weise ernsthaft an Frieden interessiert war oder ob die Wörter Stalin und Frieden für ihn vielleicht doch in einem positiven Sinne miteinander korrelierten.

Wohl eher nicht.

 

Er würde im Rahmen einer Retrospektive wohl selbst nicht umhin kommen, zuzugeben, dass er den Preis eines millionenhaften Massenmörders angenommen hat.

 

Da ist sie wieder die anthropologische Beigabe unserer Vorfahren; wegen kleiner Vorteile willen ist der Mensch bereits bereit, soziale, ethische und politische Wertefeststellungen zu opfern.

Spätestens bei der Niederschlagung des Arbeiteraufstandes in der DDR im Jahre 1953 hätte man von Brecht Widerstand erwarten dürfen, statt dessen unterlag er den pychologoisch-realen Mechanismen der „Anpassung“.

 

An diesem Punkt ist eine Schnittstelle zwischen seinem epischen Werk und seinem eigenen Leben erkennbar. Er ist nun selbst der kleine Mensch, den der Mönch gegenüber Galilei im 8. Bild beschreibt. Dieser fühlte sich wohl darin, dass das Auge Gottes auf ihm ruht.

 

Brecht gefiel sich -geradezu spiegelbildlich- ebenso wohl darin, dass das Auge des DDR-Staates auf ihm ruhte. Im Falle Gallilei war der Stuhl Petri lange zufrieden damit, dass er einen Wissenschaftler hatte, der unter seiner Kontrolle still hielt.

 

Genauso war auch das DDR-Regime damit zufrieden, einen internationalen Literaten, der freiwillig einreiste, als Gallionsfigur für literarische und gesellschaftlich-politische Freiheit vor sich hinhalten zu können.

Im besagten 8. Bild kritisierte Galilei auch die Unterdrückung der Bauern.

 

Welche Ironie!

In der ehemaligen DDR wurden die Bauern komplett enteignet und entmündigt und in Kolchosen und volkseigenen Betrieben assimiliert.

 

Das, was Brecht also in seinem Werk anprangerte, akzeptierte er wegen persönlicher Vorteile in seinem geliebten Arbeiter- und Bauernstaat.

 

Die umgekehrte Proportionalität ergibt sich auch bei der Betrachtung des neunten Bildes. Dort ließ Brecht den Galilei sagen, wer die Wahrheit nicht wisse, der sei bloß ein Dummkopf, Wer sie aber wisse und sie eine Lüge nenne, sei ein Verbrecher.

 

Während Galilei aber nach achtjährigem Schweigen im 9. Bild die Forschungen wiederaufnahm, verharrte Brecht gegenüber einem System, welches Menschen später an seiner Grenze tötete, in Dauerschweigen und zwar bis zu seinem Tod.

 

Auch da wieder mein kontrastierender und provokativer Einwurf, dass mit seinem Widerstand möglicherweise der Prager Frühling und die Perestrojka früher stattgefunden hätte. Was hätte er mir da antworten wollen, vielleicht die Entschuldigung mit dem Gefängnis, „wenn ich mich gewehrt hätte, wäre ich inhaftiert worden?

Genau das würde ich aber hören wollen!

Damit hätte er dann eben genau das gesagt, was Galilei lange vor ihm von sich gegeben hatte.

 

Soweit es um seine eigene Stellung in der Welt ging, blieb Brecht -unabhängig von der Größe seines literarischen Gesamtwerkes- der kleine Mensch, den Nietzsche im „Zarathustra“ beschrieb.

 

Spätestens seit Heraklit wissen wir, dass alles fließt, deshalb muss sich der Mensch auch immer wieder unaufhörlich fragen, ob so alles noch richtig ist, wie er es gerade macht.

 

Brecht hatte wohl zu früh damit aufgehört, zu fragen, was man der persönlichen Macht und Stellung zu opfern bereit sein sollte.

 

Gerade wegen seines eigenen Schweigens im Jahre 1953, hätte er den Galilei bei seiner dritten Fassung (1954-1956) umschreiben und ihn aus der Rolle des sozialen Verbrechers erlösen sollen.

Soweit er dies aber gerade nicht getan hat, verspüre ich mehr als nur etwas Schwefelgeruch in der Nase.

Eine Frage würde ich ihm noch stellen wollen, ob er etwa Gallilei für sich selbst büßen lassen wollte?