Rudi Kölmel im März 2004 in der Fassung vom 11.09.2011

 

Gut und Böse

 

1. Denkansätze


Eine der Fragen der Philosophie war es schon immer, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist.

Über das Gute und das Böse, die beiden obersten Begriffe in der Hierarchie der Moral wurde schon viel geschrieben, die Betrachtungsansätze sind vielfältig, es gibt theologische, biologische und ethische Sichtweisen. Angesichts der langen Zeit und der vielen Darlegungen darüber bräuchte ich eigentlich nur zu konsumieren, mir darüber also weder etwas zu überlegen noch zu versuchen, hinzuzufügen. So leicht möchte ich es mir jedoch nicht machen. Es ist für mich eine sehr interessante Thematik, weil der grelle Antagonismus, also das Auseinanderfallen, das Gegensätzliche der abstrakten Betrachtung zwischen den vermeintlichen Regeln des Guten und des tatsächlich überwiegend „Gelebten" sich geradezu offenbart. Also werde ich versuchen, meine eigene Sichtweise nicht in einer realitätsfernen und allzu weltabgehobenen Darlegung anzusiedeln.

Dies deshalb, weil praktische Philosophie eben auch immer lebensbezügliche Beispiele benötigt, um die Zusammenhänge nicht in einer verwaschenen Spirale unbegreiflich erscheinender Wolkenkuckucksperspektiven entschwinden zu sehen.

So sehe ich die Antworten der mich drängenden Fragen über die Ursachen des Bösen nicht im metaphysischen Bereich, sondern auf dem Acker der Vernunft heranwachsen. Dies entspricht letztlich der kant`schen Sichtweise, Kant vertrat die Ansicht, dass die Argumente der Metaphysik hinsichtlich des Suchens nach Gott, Liebe, Geist oder Unsterblichkeit die Grenzen der Vernunft überschreiten.

Zuerst fällt mir auf, dass es sich bei den Prädikaten „Gut und Böse" um eines der traditionellen dualistischen Begriffspaare handelt wie etwa schnell und langsam, hell und dunkel, warm und kalt, arm und reich und so weiter.

Nietzsche legt in Kapitel 16 von Genealogie der Moral schon mehr als vatikanische Zeitabstände an die Messlatte der Zeit, soweit er bei den beiden entgegengesetzten Begriffen „gut und schlecht", „gut und böse" einen furchtbaren, Jahrtausende langen Kampf auf Erden sieht. Das Böse sieht er zwar seit langem im Übergewicht, jedoch seien auch jetzt noch Stellen sichtbar, wo der Kampf unentschieden fortgeführt werde.

 

2. Geschichtliche Betrachtung, Theologische Sichtweise


Die Suche ist untrennbar mit dem Gottesbegriff verbunden, die Lösung -ich komme darauf zurück-, finde ich jedoch bei den Naturwissenschaften, nämlich der Verhaltensforschung.

Bereits Sokrates (469-399 v.Chr.) beschäftigte sich mit dieser Frage. Seiner Ansicht nach beruhen alle menschlichen Laster auf Unkenntnis, nicht aber auf absichtlicher Bösartigkeit. Der Mensch war nach seiner Auffassung also von Natur aus gut (sokratischer Paradoxon). Platon schloss sich dieser Auffassung an.

Platon schuf mit seiner Ideenlehre die Trennung in den Wahrnehmungsbereich und den Ideenbereich. Platons Ideenbereich des absolut Guten, Reinen, die höchste Idee, das Göttliche, war Quelle mehrerer monotheistischer „Religionsideen".

So verinnerlicht der Gott des Judentums, des Christentums und des Korans die Eigenschaften Platons Ideenlehre.

Angesichts des vielen Leids und des Schlechten und Bösen in der Welt ist schon immer die Frage entstanden, weshalb Gott dies zulässt

Der leidgeplagte Mensch, dem Böses widerfährt frägt sich, weshalb Der gute Gott das Böse zulässt.

Wenn also Gott absolut gut ist, weshalb lässt er dann das viele Schlechte zu. Obwohl Platon die Auffassung vom Guten des Menschen vertrat, hat er diese Frage meines Wissens nicht geklärt.

Epikur (341-271), einer der bedeutendsten Philosophen der klassischen griechischen Philosophie und Beweger des Eudämonismus, der Philosophie vom Streben nach Glückseligkeit, stellte hierzu bereits Essentielles in zwei Feststellungen zusammen:

 

Gott ist nicht selbst absolut gut und rein, weil er das Böse verhindern könnte, es aber nicht wolle

Gott ist nicht allmächtig, weil er es zwar wolle, aber nicht könne.

 

Ein Hinweis dafür, Gott sei nicht gut und rein, die Betonung der Hypothese erscheint mir wieder erneut vonnöten, könnte das erste Buch Mose (auch Genesis, griechisch: Anfang, das Buch der Anfänge, Entstehung 1450-1410 v.Chr.) liefern.

Die Schöpfungsgeschichte bildet im Christentum die Grundlage für die Unterscheidung des Bösen vom Guten. Sie beschreibt die Erschaffung der Welt, die Geschichte von Adam und Eva und die Ursünde. Die Ursünde war der Genuss der verbotenen Frucht. Diese Möglichkeit erwarb sich die Menschheit durch die Inanspruchnahme der Freiheit der Entscheidung, die Menschen wollten mehr als das Paradies, nämlich selbst zu sein „wie Gott". Sie wurden sterblich, verloren die Möglichkeit, in Frieden zusammenzuleben und erfuhren das Leid und Mühsal (1. Buch Moses 4).

Es wird deutlich ersichtlich, dass die Genesis lediglich aufführt, welche Folgen der Sündenfall hatte, dass es nun auch das Böse gebe, woher das Böse jedoch komme, wird nicht erklärt.

Aufgrund der Verderbtheit der Menschen beschloss Jahwe (Gott), alle Menschen und Lebewesen, bis zu den Vögeln unter dem Himmel, zu vernichten. Dazu schickte er eine 40-tägige Flut, die alles zerstörte bis auf die Arche Noah. Noah jedoch findet aufgrund seiner Rechtschaffenheit die Gunst Jahwes, der ihn anweist, eine Arche zu bauen, durch die sowohl die menschlichen Nachkommen als auch die Tiere bewahrt würden.

Danach schloss er mit Noah und später Abraham einen Bund mit dem israelischen Volk.

Übrigens berichtet im Gilgamesch-Epos, der im Nahen Osten in mehreren Sprachen übersetzt war, der Weise Utnapischtim dem Herrscher Gilgamos von einer großen Flut. Der Epos wurde in Keilschrift um ca. 2000 v. Chr. auf zwölf Tontafeln geschrieben. Der Epos ist also sogar älter als die Genesis. In dieser babylonischen Heldenerzählung sumerischen Ursprungs, sendet der hohe Gott Enlil eine Überschwemmung, um die Menschheit zu vernichten. Nur Utnapishtim gelang es, die Flut zu überleben. Dazu baute er eine Arche und nahm Samen aller lebenden Wesen mit an Bord. Hört sich doch ähnlich an, für so einen Ideenraub würde man heute vor einem Patentgericht verklagt werden.

 

Eisabschmelzungen in der Folge eines Temperaturanstieges nach der letzten Eiszeit soll den Anstieg des Meeresspiegels und im Bereich des Schwarzen Meeres erhebliche Überschwemmungen ausgelöst haben. 1999 haben Wissenschaftler an den Rändern des Schwarzen Meeres in rund 140 Meter Tiefe eine seit fast 8 000 Jahren versunkene Küstenlinie entdeckt, die Parallelen zur biblischen Geschichte aufweist. Die Menschen wohnten weit unterhalb des Meeresspiegels. Durch den Anstieg des Meeresspiegels an der Stelle des heutigen Bosporus sei das Meer mit gigantischen Wassermassen über die Landbrücke getreten und habe das Land überschwemmt.

Mit der Zeit ist diese natürliche Erscheinung in eine verklärende Mythologisierung übergegangen, zuletzt wurde sie instrumentalisiert.

 

Das Leben der Menschen betrachtete Jahwe als nicht mehr wert, es weitergewähren zu lassen, es erschien ihm lebensunwert. Welche Folgen es haben kann, etwas als lebensunwert anzusehen, sollte sich in der Geschichte tausende Jahre später tatsächlich erweisen.

Ich frage mich nun, aufgrund des absolutistischen Anspruchs der Allmacht und Allwissenheit musste „Gott" doch wissen, dass die unvollständige Spezies Mensch verderbt werden würde. Falls er dies von Anfang an nun wusste, war es eben nicht gut, bereits mit der Schöpfung den ersten menschlichen Holocaust zu planen. Nein, es war nicht nur der erste Holocaust, er bestrafte ja auch die Vögel unter dem Himmel. Hier verstehe ich nun gar nicht, weshalb die Vögel und Tiere allgemein quasi in „Sippenhaft" für die Schuld der Menschen vernichtet werden mussten.

 

War die Tiervernichtung gut oder böse?


Machen wir uns noch einige Gedanken zu der Vernichtungstat selbst. Ich erinnere mich noch an den Religionsunterricht der ersten Klasse, wie die Vernichtung des Lebens schön märchenhaft verpackt, uns Kindern in Einfachstqualität, versüßt mit schönen bunten Bildchen als etwas Gutes geschildert wurde.

Betrachten wir doch schnell die Vernichtungstat im Detail.

Der Tod durch Ertrinken ist ein langsamer Tod, die Lungen füllen sich mit Wasser, der Mensch erstickt, die Angstgefühle Ertrinkender bewegen sich in den Grenzbereichen menschlichen Denkens, es ist ein grausamer Tod. Leichen, die 40 Tage im Wasser liegen sind aufgequollen, Maden fressen ihnen die Augen und den Körper auf, Gedärme werden zu Schleim. Ach ja, die Maden waren ja auch tot, sie waren ja auch fürchterlich schuldig, weil Adam und Eva einen Apfel gegessen haben.

War die Vernichtungshandlung Gottes also gut, zuzusehen, wie kleine Kinder langsam einen fürchterlichen Ertrinkungstod erlitten. Hätte er aufgrund der ihm zugeschriebenen Allmacht, um in der heutigen technisierten Begrifflichkeit zu argumentieren, nicht etwa einfacherweise die Hardware Mensch deinstallieren oder einen früheren Systemwiederherstellungszeitpunkt wählen können.

Wie ertrinken eigentlich Fische?



Aus welchem Grund sollten Menschen einen Gott haben wollen, hätten sie wählen können, der auch mildere Mittel zur Verfügung hatte, der sich gegenüber Leid und Schmerz immun zeigte und Unschuldige mit einer Gruppenverfolgung überzog.

 

Nun, jeder muss selbst frei entscheiden, wie glaubhaft derlei Konstrukte für ihn sind, ich persönlich verstehe jetzt Nietzsche wieder ein bisschen besser.

 

Der Naturwissenschaftler Konrad Lorenz (1903-1989) äußert sich 2300 Jahre später in den Schlussbemerkungen seines Buches „Abbau des Menschlichen" über einen „Gott" des Christentums, den Epikur so nicht kannte. Man könnte laut Lorenz wohl an einem Gott eher verzweifeln, der den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen haben soll, dieses in seinem kollektiven Tun oft böse und dumme Wesen solle also einen Gott repräsentieren.

 

Diese Grundüberlegungen Epikurs führten zur Theodizeetheorie, die bei Theologen bis heute einen breiten Raum einnimmt. Der Begriff entstammt dem griechischen und beschäftigt sich ausdrücklich mit der Rechtfertigung Gottes angesichts des von ihm zugelassenen Übels in der Welt.

Im Wesentlichen sieht diese Richtung das Übel als die Folgen der menschlichen Freiheit an.

Einer der bedeutendsten Rechtfertigungsanhänger war der Neuplatoniker und christliche Kirchenvater Augustinus. Seine Darlegungen erscheinen mir da etwas sehr zweckoptimistisch. Nach seiner Auffassung könne sich das, was augenscheinlich böse ist, im Nachhinein aus der Sichtweise Gottes als gut erweisen. Dieser Erklärungsversuch entspricht einer Entwicklung in der sich die Kirche, nachdem sie Hierarchien ausgebildet und sich schon weit von der Lehre Christi entfernt hatte, dann über Jahrhunderte als Repressionsmaschinerie erwies. zu verbinden und daraus ein einträgliches Geschäft zu machen. Der Begriff des Bösen diente also der Instrumentalisierung, des Machterhalts und der Machtanhäufung. Die Erlösung im Jenseits wurde als Erlösungsstrategie offeriert.

In diesem Sinne verstand es dann im Mittelalter die katholische Kirche sehr gut, das Böse mit dem Ablasshandel zu verbinden und daraus ein einträgliches Geschäft zu machen. Den Menschen wurde managementartig die Idee verkauft, man könne sich für das Jenseits bereits schon heute durch Geldzahlungen von den Sünden befreien.

 

Eine der bedeutendsten hinterfragenden Persönlichkeiten des Mittelalters war der lutherisch geprägte, jedoch den Mystikern zugeschriebene Schuhmachermeister Jakob Böhme ( 1575 – 1624). Seine Schrift „Morgenröte im Aufgang" hinterfragte kritisch die kirchlich verordnete Schöpfungslehre. Er entwickelte die Theorie, dass Gott nicht nur das Gute, sondern auch das Böse repräsentiert und sich das Gute nur erweisen kann aufgrund der Existenz des Bösen. Nach Böhme verdankt jede Erscheinung ihre Offenbarung in der Existenz von etwas anderem. Das Böse ist nur durch das Gute möglich, das Gute ist nur möglich, weil es das Böse gibt. Recht freizügig schilderte er in seiner Schrift die Zorntaten Gottes, was ihm den Widerstand der orthodoxen Lutheraner einbrachte.

 

Böhme war prägend für unter anderem Hegel und Schelling.

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), französischer Philosoph der Moderne während der Zeit der französischen Aufklärung beschäftigte sich mit dem Übergang vom Menschen in der glücklichen Ursprungsgesellschaft bis zur Rechtsungleichheit in der modernen Gesellschaft (also über den Ursprung der Ungleichheit). Er sieht den Menschen als von Natur aus gut an, der dann durch die Zivilisation verdorben wird.

In der modernen neuzeitlichen Philosophie fand die Jenseitstheorie große Kritiker, wie Nietzsche oder Marx. Nietzsche behauptete hierzu, dass sich mit dem Jenseits jede Lüge im Diesseits rechtfertigen lasse.

Einer der bedeutendsten neuen Theodizeevertreter war Leibnitz. Es gebe das Böse, das Übel, weil eben alles Seiende unvollkommen ist, ansonsten es ja göttlich wäre. Das Böse entsteht aus der Inanspruchnahme der Freiheit und biete die Chance zur Besserung, nicht Gott sei anzuklagen, sondern das persönliche Verhalten sei zu ändern.

 

3. Entstehen des Bösen, wie ich das sehe

 

All diese bisherigen Erklärungsversuche bewegen sich ausschließlich im metaphysischen Bereich, also dem Bereich hinter der Physik, all diese vielen Jahre des Denkens, Überlegens und Niederschreibens darüber erweitern zwar die abstrakten Fähigkeiten des Menschen, führen uns jedoch keine Antwort zu.

 

Aus all dem habe mir meine eigene Auffassung gebildet und eine für mich einleuchtende Erklärung gefunden, ich nenne sie die Scherentheorie:


Das Böse entsteht aus dem Ungleichgewicht zwischen dem linearen Anstieg des kognitiven Wissens der Menschheit und dem degressiven Verlust der Schutzmechanismen des Aggressionstriebes

 

3.1 linearer Anstieg des kognitiven Wissens der Menschheit als basale Bedingung des Bösen

 

Die Entwicklung menschlicher kognitiver Fähigkeiten, nämlich eigenständige Wahrnehmung und Verarbeitung (Erkennen, Denken, Vorstellen, Lernen, Erinnern) = kognitio, lat, Erkenntnis führten über das abstrakte Denken zum Wunsch nach Machtausübung. Machtausübung war zwangsläufig mit Gewaltausübung und bösen Taten verbunden. In der Frühphase des menschlichen Werdens genügte die jeweils benötigte Nahrungsbeschaffung, der Mensch benötigte wegen des Nomadenlebens fast keine sächlichen Güter. Die ersten sächlichen Dinge waren Waffen, Feuersteine etc. Die Erkenntnis und der Wunsch nach Machtausübung führten ihn dann zur Eroberung größerer Jagdgebiete. Damit fing die Gewaltspirale an. Mit der Ansiedlung und dem Ackerbau wuchs auch der Wunsch nach Eigentum. Das Wesen Mensch hatte sich durch seinen zu strategischen Leistungen befähigenden Intellekt endgültig von den Tieren unterschieden, bei denen kein Denken auf den Erwerb von Eigentum gerichtet ist. Der fehlende Trieb der Tiere auf Eigentumsanhäufung impliziert auch die fehlende Veranlagung, Böses zu tun.

Das kognitive Wissen an sich ist nicht ursächlich für das Böse, die Gefährlichkeit entsteht immer erst mit dem dem Menschen innewohnenden Drang nach der Anwendung des Wissens.



Dieses Wissen, scheint mir im Begriff zu sein, der Natur des Menschen davonzulaufen, es entwickelt sich schneller als die Fähigkeit, damit verantwortlich umzugehen.


Die Natur drängt den Menschen mit dem Selbsterhaltungstrieb zur Arterhaltung und zum Überleben, die Neugierde nach Wissen und deren Anwendung treibt ihn über die Grenzen des Verständnisses seiner eigenen Seinswesigkeit. Hierunter verstehe ich das sich entwickelnde Unvermögen des Menschen, zu erkennen, was seinem Wesen entspricht.


Dies möchte ich anhand eines Beispieles erklären.


Die rein geistesmäßige Durchdringung der Wissensmaterie über die Wirkungskräfte der Atomspaltung bewirkte noch nichts Negatives, erst der Wunsch nach Anwendung brachte das Leid über die Menschen, so etwa der erste Abwurf einer Atombombe über Hiroshima. Im Verbund mit dem Verlust der Schutzmechanismen des Aggressionstriebes war der Abwurf eben das Böse, dem Hunderttausende von Menschen mit einem grausamen Tod oder jahrzehntelangem körperlichen Dahinsiechen zum Opfer fielen. Die einzelnen Handlungen, die sich als das Böse erweisen sollten, der politische Beschluss zur Fertigung der Waffe, die Bereitschaft zur Anwendung, der politische Beschluss zum Abwurf, der Abwurf selbst, geschahen alle unter dem Dunst der technischen „Entrücktheit". Die kleine mechanische Handlung der Betätigung des Auslösemechanismus führte beim Piloten zu einer Reduktion seiner eigenen subjektiven Verantwortbarkeit. Die Mechanik innerhalb der technischen Befindlichkeit befähigte ihn, das Leid aus der Ferne auszulösen, als Bewältigungsmechanismus könnte die Auffassung entstehen, nicht der Mensch tötet, sondern die Bombe. Hätte der gleiche Mensch den Befehl erhalten, persönlich tausende 3 Wochen alte lebende Babys Auge in Auge mit einem Flammenwerfer einzuäschern, er hätte diesen Befehl wohl verweigert.

 

3.2   Degressiver Verlust der Schutzmechanismen des Aggressionstriebes


Eine der neueren Forschungen ist die Verhaltensforschung, die Ethologie, das Studium der Verhaltenswissenschaften bei Tieren, sowie deren Ursachen und Verhaltensweisen. Die Ethologie war etwa bei Vorsokratikern noch unbekannt. Deshalb suchten sie bei der Frage nach dem Bösen die Gründe jenseits der Naturwissenschaft, jenseits der Empirik.

Die drei mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Begründer der Ethologie, der Österreicher Konrad Lorenz, der Niederländer Nikolaas Tinbergen und der Deutsche Karl von Frisch erhielten 1973 den Nobelpreis. Sie führten vier Argumente genetischer Programmierung für das Überleben der Arten an. Diese sind Signalreize (Auslöser), modale Bewegungsabläufe, Motivationen (Triebe) und programmiertes Lernen (einschließlich Prägung).



Der 1989 gestorbene Konrad Lorenz veröffentlichte 1963 das Buch „Das sogenannte Böse", sein berühmter Streifzug durch die Naturgeschichte der Aggression. Er schildert darin eine Vielzahl aggressiver Verhaltensmuster aus dem Tierreich, deren Ursache in der Entwicklungsgeschichte begründet ist. Tieren steht eine Vielzahl von Droh- und Kampfgebärden zur Verfügung. Nach Lorenz wäre es aber nicht im Sinne der Arterhaltung, würden sich Individuen der gleichen Art verletzen oder töten. Tieren ist die Unterwerfung gegenüber einem überlegenen Gegner angeboren, deshalb wird die Tötung eigener Artgenossen dadurch oft verhindert. Genetisch dürfte sich der Überlegene bewusst sein, dass er durch die Tötung das Kampfpotential der eigenen Horde unnötig schwächen würde. Deshalb ist Kampfverhalten oft ritualisiert, mit dem Zweck, nur die Kräfte zu messen. Insgesamt hält er auch den Aggressionstrieb für wichtig, um das Überleben des Individuums und den Fortbestand der Gattung zu sichern, sieht diesen mithin als Schutzmechanismus an.

 

Für den Menschen ist jedoch eine gesonderte Entwicklung feststellbar.

Er führt aus, dass der Mensch im wesentlichen 4 Triebe besitze, den Nahrungstrieb, den Fortpflanzungstrieb, den Fluchttrieb und den Aggressionstrieb (lat. aggredi = angreifen) .

Menschliche Aggression sei genetisch veranlagt und habe ihre Entsprechung in der Revierverteidigung der Tiere. Das „sogenannte Böse" war seiner Auffassung nach die Äußerung eines universellen angeborenen Aggressionstriebes.

Die Verhaltensforschung und Verhaltensbiologie bei Menschen ist das Wissenschaftsgebiet der Humanethologie.

So zwischendurch fallen mir geschichtliche Beispiele ein, die für die erbgenetische Veranlagung sprechen, ein kleiner Rückblick sei hier erlaubt.

Es gibt in der Geschichte genügend Beispiele, in denen hervorragende Erzieher und Philosophen nichts zum Guten bewirkt haben und die von ihnen angeleiteten jungen Menschen sich zu Monstern entwickelten.



Zumindest könnte diese These durch die vergeblichen Bemühungen Senecas (4 v.Chr bis 65) genährt werden. Agrippina, die Gattin von Kaiser Claudius berief Seneca zum Erzieher ihres Sohnes aus erster Ehe, des späteren Kaisers Nero. Das Ende der Taten von Nero kennen wir alle.

Ein weiteres Beispiel könnte der Sohn des Philosophenkaisers Marcus Aurelius (121-180) sein. Selbst die Erziehung eines der hervorragendsten Vertreter der stoischen Philosophie (Stoa) vermochte nicht zu verhindern, dass sein Sohn Commodus sich im Laufe des Lebens als schlecht und verdorben darstellte und großes Unheil über seine Mitmenschen brachte.

Während bei Tieren jedoch in der Regel eine Tötungshemmung bestehe, die sie daran hindere, Artgenossen zu vernichten, lehrt die Geschichte, dass der Mensch diese Tötungshemmung weitgehend verloren hat.

Auch ist von Bedeutung, das sich die Tötung von Artgenossen in einer nach Millionen zählenden Sozietät nicht mehr als nennenswerte Schwächung des Kampfpotentials der Art erweist.

So wird es auch erklärlich, wie es unter Pol Pot in Kambodscha zu einem Genozid kommen konnte, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen.

 

3.3   Entwicklung, Bewertung



Es ist klar ersichtlich, dass sich eine Schere abbildet.

Der degressive Verlust der Schutzmechanismen des Aggressionstriebes scheint sich mir in der Jetztzeit an Tempo zu einem exponentiellen Verlust hin zu beschleunigen. Das Ziel muss es sein, diese Schere wieder zu schließen. Dies ist jedoch nur im Verbund verschiedener Maßnahmen möglich und bedarf aufgrund der Komplexität einer gesonderten Betrachtung.

 

4. Beliebigkeit von Gut und Böse im Wandel der Zeit


4.1. Allgemein

Der Mensch hat Urmaße für den Meter, das Kilogramm, die Stunde vieles andere festgelegt, gibt es jedoch ein Urmaß für das Gute und das Böse?

Die sprachanalytische Betrachtung der Substanz der Prädikate offenbart, dass diese sich nicht nach irgendwelchen Eigenschaften definieren, die Begriffe haben keinen definierten Anfang und kein Ende, kein spezifisches Artgewicht, man kann sie nicht wiegen, nicht messen und nicht riechen, man kann die Substanz nicht kaufen und verkaufen, erben oder vererben.

An diesem Punkt könnte beispielsweise jemand behaupten, „Gut" sei das Befolgen der 10 Gebote des Christentums, das Leben nach den von Buddha in seiner Predigt von Benares verkündeten vier heiligen Wahrheiten, die Gewaltlosigkeit der Jainas oder das Befolgen der Grundsätze der nikomachischen Ethik des Aristoteles und so weiter.

Die Anhänger betätigen sich oft als Apologeten ( griech. apologia: verteidigen) rechtfertigen also ihre Lehre mit Nachdruck gegenüber anderen Anschauungen.

Diese schon kleine Aufzählung beschreibt die gewaltige Pluralität verschiedener Systeme.

Dies scheitert bis heute an der Unzulänglichkeit des Menschen, die oftmals hehren Ziele der einzelnen Wertefestlegungen der vielfältigen Denksysteme fallen etwa dem Machstreben, dem Hang der Anhäufung nach Eigentum, dem Fanatismus zum Opfer.

Alle menschlichen Denksysteme beschreiben Pflichtenhefte, welche Ziele menschliche Handlungen haben sollen bzw. welche Folgen diese haben. Das ist die eine Seite, die Uridee sozusagen. Kurz danach verspürt der Mensch jedoch in fast allen Fällen keine Kraft mehr, diese Ziele dauerhaft im praktischen Leben umzusetzen, also tatsächlich zu leben.

Oft gebietet es ihm anscheinend seine anthropologisch generierte Zwangssituation, dagegen zu verstoßen, seine Festlegungen zu verbiegen und diese sogar als Begründung für die gerade entgegengesetzten Handlungsweisen argumentativ zu missbrauchen. Ich meine damit in erster Linie, den Machtdrang mit möglicherweise allen Mitteln, dabei den Humanismus über den Rand des Spielfelds drückend.

 

4.2 Die ständig latente Bereitschaft des Menschen, von eigenen Festlegungen abzuweichen, nenne ich Beliebigkeit.

 

Die Beliebigkeit ist insbesondere bei der Betrachtung historischer Geschehnisse erkennbar, so etwa beim historischen Vergleich menschlichen Handelns, dieses jedoch im Kontext mit der jeweils herrschenden Kultur dieser Zeit. Die Beliebigkeit ist omnipotent, überall vorhanden, zu jeder Zeit und an jedem Ort.

 

4.2.1 Aristoteles

Aristoteles, Lehrstoff an deutschen Universitäten, war Rassist. Er empfahl Kaiser Alexander dem Großen, dessen Erzieher er war, unterworfene Völker wie „Nutztiere" zu halten. Nach seiner Auffassung waren alle Nichthellenen nämlich Barbaren, die man versklaven sollte. Alexander hat sich nicht an diesen Rat gehalten.

In diese Zeit gehört auch die Betrachtung der Pädophilie, die sogenannte Knabenliebe war bei den Griechen und Römern in der gebildeten und wohlhabenden Gesellschaft durchaus verbreitet und legitimiert, niemand nahm Anstoß daran.

Damit kommen wir im Gegensatz zur heutigen Ansicht zu der sehr interessanten Feststellung, bei allen Vergleichen durchaus den Kontext der jeweiligen Zeit beachten zu müssen. Heute gilt Pädophilie als die Inkarnation des Bösen, damals krähte kein Hahn danach. Die Beliebigkeit kommt bei dem Zeitenvergleich mit Urgewalt zum Ausdruck.

 

4.2.2 Aufruf zu den Kreuzzügen

 

Nach dem christlichen Pflichtenheft, den 10 Geboten, der Uridee, die Moses von Gott erhalten haben soll, heißt es wörtlich: „Du sollst nicht töten"

Zwischen 1096 und 1291 fanden auf Betreiben der Päpste sieben Kreuzzüge ins »Heilige Land« Palästina statt, die nach Schätzung des Schriftstellers Hans Wollschläger (»Die bewaffneten Wallfahrten nach Jerusalem«) insgesamt 22 Millionen Menschen das Leben kosteten.

Bei der Eroberung Jerusalems (1099) wurden etwa 70 000 Juden und Muslime im Blutrausch umgebracht - die gesamte Einwohnerschaft der Stadt. Die Zwangsjacke der Anthropologie, das genetisch programmierte Verhalten nach Machterhaltung und Machterweiterung war der Treibstoff für ein 180 Grad Wendung.

Wie kann es sein, dass der Papst, der Stellvertreter Christi auf Erden, dazu verpflichtet, auf die Einhaltung der 10 Gebote zu achten, zur Tötung Andersgläubiger aufruft

 

4.2.3 Napoleon

 

Ein weiteres Beispiel ist etwa Napoleon, der über viele Jahre hinweg Europa Tod und Krieg brachte. Die damals lebenden Menschen assoziierten Napoleon mit dem Bösen. Heute gilt er -nicht nur in Frankreich- als heldenhafter Feldherr, der sich in der berühmten Schlacht von Waterloo einem übermächtigen Feind beugen musste.

 

4.2.4 Martin Luther

 

Auch Martin Luther wurde als Religionsstifter heroisiert. Wahrscheinlich würde er in der Bundesrepublik gerade wegen Volksverhetzung und Aufruf zum Rassenhass im Gefängnis sitzen. Er war nämlich ein bekennender Judenhasser. In seiner Wittenberger Schrift von 1543 „ Von den Juden und ihren Lügen" stellte er ein 7-Punkte Programm zur Verfolgung der Juden auf, dazu gehörte auch die Aufforderung zur Tötung der Juden.

Luther fordert die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung:


»Wenn ich könnte, so würde ich ihn (den jüdischen Mitbürger) niederstrecken und in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren.«

»... dass man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke und was nicht brennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacken davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien...«

»diese Taugenichtse und Ausplünderer sind keiner Gnade und keines Mitleids wert.«

»... dass man ihnen verbiete, bei uns ... öffentlich Gott zu loben, zu danken, zu beten, zu lehren bei Verlust Leibes und Lebens ...«


»... dass man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke, ... dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre...«

Er forderte nicht nur den Tod der Juden, sondern auch die Todesstrafe für Wiedertäufer, für Ehebrecher, er war für die Folter, forderte den Tod von Frauen mit magischen Kräften, die Todesstrafe von Prostituierten.

Heute wird dies so gut wie möglich verschwiegen, ideologisch beruft sich die lutherisch-evangelische Kirche auf Martin Luther.

Da ich mich in dieser Frage als freier „Wertender" ansehe, stelle ich nur die Frage, welches Denkgebäude die wertvolleren Wurzeln besitzt, das Christentum oder der Buddhismus.

 

4.2.5 Politik

 

Die Beliebigkeit ist jedoch auch in der Jetztzeit überall präsent. Betrachten wir beispielsweise, wie die von den meisten Staaten unterzeichnete Menschenrechtskonvention in die Tat umgesetzt wird. Die Verstöße gegen diese schon bestehenden Normen sind so ergiebig, wie die Regenfälle auf den Philippinen während der Monsunzeit; auch von den Staaten, die sich der Restwelt als Gralshüter der demokratischen Grundordnung und Bewahrer der Freiheitsrechte präsentieren wollen, speziell der Staat, der dies seit 1776 versucht, in der Nachwirkung des zweiten Irakkrieges dann im Jahre 2004 die Folter zur legitimen Verhörmethode erklärte.

 

4.2.6 Die Ehe

 

Aber nicht nur in diesen großen Bereichen ist die Beliebigkeit erkennbar, auch in den kleinsten Zellen der Sozietäten erkennen wir die Beliebigkeit. Hierfür möchte ich die Ehe anführen, auch eine Wertegemeinschaft, die weltweit besteht. Man gelobt hierbei dem Ehepartner, ihn zu lieben, zu achten und ihm lebenslang zur Seite zu stehen. Wie beliebig diese gegenseitigen Versprechen sind, zeigt die Scheidungsrate.

 

5. Zusammenfassung


Dies lässt mich zu dem Ergebnis kommen, dass es letztlich keine Urparadigmen für das Gute oder Böse gibt oder geben wird. Die Determinanten der Beliebigkeit und des Erfordernisses, alles im Kontext der Zeit und der jeweiligen Kultur zu sehen, verwehren eine eindeutige Skalierbarkeit.

Die Beliebigkeit beschreibt einen Prozess, wie sich die Veränderung des Seins, der Zeitenwandel und die Zahl der Jahre, die sich faltenartig über die Geschehnisse legen, diese scheibchenweise einer andersartigen Interpretation zuführen können und dies auch tun.

Bei der Bewertung ist aufgrund der Unzulänglichkeit der Bewertenden alles fließend, Heraklit würde sagen, „ panta rei", alles fließt.