Rudi Kölmel, März 2006 in der Fassung vom 31.12.2010

 

Nichts Neues unter der Sonne, nihil novum sub sole

 

Die Ausgangslage ist das Staunen darüber, weshalb der Mensch trotz seiner Individualität und seiner technischen Schöpfungskraft  immer wieder zu Fragen und Gedanken zurückkehrt, die schon oft vorher gedacht wurden. Fragen und Bereiche menschlichen Denkens, die sich in der Vergangenheit wiederholt haben und sich voraussichtlich bis zum Ende der Tage des Menschen wiederholen werden.

Ist dies etwa Zufall? Nein, nachdem es meines Erachtens den Zufall nicht gibt und jede Wirkung ihre Ursache hat, wird es wohl anders sein. Mein Erfahrungswissen befähigt mich zum Erkennen eines kosmischen Prinzips. Dieses besteht in der Wiederkehr bestimmter Geschehnisse.

Kosmischer Staub verdichtet sich zu Planeten, bis diese irgendwann in einer Supernova verschwinden, um dann einst wieder aus den Resten als Stern neu zu entstehen. Die Erde dreht sich um die Sonne, das Jahr besteht aus Jahreszeiten, die sich wiederholen, das Wasser fließt zum Meer, die Vögel ziehen im Herbst in den Süden. Menschen werden geboren, leben und sterben. Religionen  verinnerlichen das Prinzip genauso wie Staatsformen.  Demokratien werden zu Diktaturen und umgekehrt. Kulturgeschichtliche Entwicklungen kommen, gehen dann, um irgendwann wieder aufzukommen. Auch etwa die Mode und Moral kommt und geht, um in abgeänderter Form wiederzukehren.

Aristoteles hat in der Nikomachischen Ethik auch schon die Frage nach der  Glückseligkeit gestellt und sie als das Endziel der menschlichen Tätigkeit bezeichnet, auch heute streben die Menschen noch nach der Glückseligkeit, nur die Erfüllungsbedingungen haben sich geändert. Weshalb ist dies so?

Ganz einfach, weil die menschlichen Gene sich in den letzten 10 000  Jahren nicht mehr verändert haben, die Grundveranlagung der Menschen demzufolge auch nicht. Daraus folgert letztlich die Tatsache, dass immer wieder die gleichen Fragen entstehen, geboren aus der Tiefe der menschlichen Existenz, den Hoffnungen, Wünschen und Ängsten des homo sapiens.

 

I. Altes Testamtent, Buch Prediger, Kapitel 1 Vers 9 bis 11.

 

Die erste schriftliche Niederlegung der Erkenntnis, dass es nichts mehr Neues gibt und sich alles Geschehene wiederholt,  geschah wohl im 10. Jahrhundert vor Christus im Buch Prediger. Ich zitiere aus der Elbersfelder Bibel 1873:

„Worte des Predigers, des Sohnes Davids, des Königs in Jerusalem. Eitelkeit der Eitelkeiten! spricht der Prediger; Eitelkeit der Eitelkeiten! Alles ist Eitelkeit. Welchen Gewinn hat der Mensch bei all seiner Mühe, womit er sich abmüht unter der Sonne?  Ein Geschlecht geht, und ein Geschlecht kommt; aber die Erde besteht ewiglich.  Und die Sonne geht auf und die Sonne geht unter; und sie eilt ihrem Orte zu, wo sie aufgeht.

Der Wind geht nach Süden, und wendet sich nach Norden; sich wendend und wendend geht er, und zu seinen Wendungen kehrt der Wind zurück. Alle Flüsse gehen in das Meer, und das Meer wird nicht voll; an den Ort, wohin die Flüsse gehen, dorthin gehen sie immer wieder. Alle Dinge mühen sich ab: niemand vermag es auszusprechen; das Auge wird des Sehens nicht satt, und das Ohr nicht voll vom Hören. Das, was gewesen, ist das, was sein wird; und das, was geschehen, ist das, was geschehen wird. Und es ist gar nichts Neues unter der Sonne. Gibt es ein Ding, von dem man sagt: Siehe, das ist neu, längst ist es gewesen in den Zeitaltern, die vor uns gewesen sind. Da ist kein Andenken an die Früheren; und für die Nachfolgenden, die sein werden, für sie wird es auch kein Andenken bei denen geben, welche später sein werden.. „

In der lateinischen Vulgata-Version der Bibel heißt es „nihil novum sub sole“. Es handelt sich um die Übersetzung des Kirchenvaters Hieronymus, der ab 390 das Alte Testament aus dem Hebräischen ins Lateinische übersetzte.

 

II. Publius Terentius Afer, kurz Terenz genannt (195/190 - 159 v. Chr.)

 

war neben Plautus einer der bekanntesten römischen Komödiendichter und  schrieb im Jahre 161 vor Christus die Komödie Eunuchus, in der er im Prolog in Zeile 41aufführt:

„nullum est iam dictum quod non dictum sit prius“

„ Es ist noch nichts gesagt worden, was nicht schon früher gesagt worden wäre“

 

III. Marcus Tullius Cicero (106 vor Chr. - 43)


meinte in „De divinatione“:

 „Wenn alles bestimmt ist (cum fato omnia fiant), was anderswo gezeigt wurde, und wenn ein Sterblicher die Verbindung der Ursachen von allem gedanklich erfassen könnte, könnte ihn nichts täuschen. Wer nämlich die Ursachen der zukünftigen Dinge begreift, ist sicher jemand, der alles begreift, was in der Zukunft liegt; was allerdings niemand außer Gott tun kann, so daß dem Menschen nur bleibt, daß er aus gewissen Zeichen vorhermerke, ... was kommen wird. ... Wie das Ablaufen-Lassen eines Seils, so bringt auch der Ablauf der Zeit nichts Neues...“

 

IV. Marc Aurel (121 bis 180 n.Chr.), der Philosophenkaiser und Stoiker

 

hat sich mit der Aussage über die Zeit in seinem Werk „Selbstbetrachtungen“ auseinandergesetzt. Im Zweiten Buch lässt er uns unter Nr. 14 wissen:

„Immer also an diese beiden Dinge denken: Erstens, dass alles seit Ewigkeiten gleichartig ist und sich in ständigem Kreislauf wiederholt und dass es ohne Bedeutung ist, ob jemand in hundert oder zweihundert Jahren oder in unendlicher Zeit dasselbe sehen wird;“.

Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass Aurel keine statisch starre Weltauffassung besaß, sondern durchaus der heraklitischen Sicht beipflichtete, so bemerkt er unter Nr. 21:

„Denn alles muss sich verwandeln, sich verändern und zerstört werden, damit anderes danach entstehen kann“

Seine Sicht des Kreislaufs bezieht sich auf das essentielle Weltgeschehen, welches sich in ständigen Wiederholungen lebt.

 

V. Jean de La Bruyère (16.08.1645-10.05.1696)

 

Vom französischen Moralisten gibt es das Zitat

„Alles ist schon gesagt worden, und man kommt mehr als siebentausend Jahre zu spät, seit es Menschen gibt, die denken“

VI. Goethe

VI.1  Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829)


verewigte gleich zwei bekannte Aussagen zur Wiederkehr des Gleichen. In Goethes Werk „Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden“ stellte er Betrachtungen zu Kunst, Ethisches und Natur an und kam dabei zu folgender Aussage:

„Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken“.

 

VI.2  Faust II (1833)

 

Die bekannteste nachbiblische Aussage wird von Goethe in Faust II verewigt. Im hochgewölbten engen gotischen Zimmer sagt Mephistopheles zu Baccalaureus im 2. Akt:

„Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht?“

 

VI. Karl Ferdinand Gutzkow (17.03.1811-16.12.1878), deutscher Schriftsteller


schrieb 1846 Uriel Acosta. Darin griff er die Gedanken von Prediger Salomo 1,9 auf. Im zweiten Auftritt des Vierten Aufzugs spielt die Situation in einem niedrigen Gemach, an den Wänden sind die Gesetztafeln mit hebräischen Buchstaben gemalt. Es treffen sich der Rabbi Ben Akiba, ein hochbetagter Greis, geführt von zwei Rabbinen, Rabbi Van der Emden mit einer Pergamentrolle, Santos, später kommt noch Uriel hinzu.

„Akiba:

Das war schon alles da. Setzt Euch, Rabbinen!
Van Embden soll indes die Feder führen. –
Das bloße Wort verfliegt in Lust und Lüge.
Das war schon alles da – glaubt mir, Rabbinen!
Epikuräer, Spötter, Glaubensspalter –
Die Jugend denkt, es wären Neuigkeiten –
Es war schon alles da – glaubt mir, Rabbinen –
In unserm Talmud kann man jedes lesen
Und alles ist schon einmal dagewesen.“

 

VII. Arthur Schopenhauer, deutscher Philosoph und Gelehrter


schrieb in seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 4, Zürich 1977, S. 516-526),  ein Kapitel 38 über den Stellenwert der Geschichte. Meines Erachtens liefert er den philosophisch wertvollsten Beitrag zu dieser Thematik. Hierbei legt er dar, dass die Geschichte mit dem Focus auf das Individuelle  beim Menschen zu Unrecht den Eindruck erweckt, als sei jeder neue Abschnitt etwas Neues, während die Philosphie wegen des Blicks zum Allgemeinen zur Erkenntnis verhilft, dass immer alles das Gleiche ist.

Die Kapitel der Völkergeschichte sei im Grunde nur durch die Namen und Jahreszahlen verschieden, während der eigentlich wesentliche Inhalt überall der selbe ist. Deshalb würde es auch ausreichen, den Herodot gelesen zu haben, der das ganze Treiben, Tun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts beschreibe.


„Sofern nun die Geschichte eigentlich immer nur das Einzelne, die individuelle Thatsache, zum Gegenstande hat und dieses als das ausschließlich Reale ansieht, ist sie das gerade Gegentheil und Widerspiel der Philosophie, als welche die Dinge vom allgemeinsten Gesichtspunkt aus betrachtet und ausdrücklich das Allgemeine zum Gegenstande hat, welches in allem Einzelnen identisch bleibt; daher sie in diesem stets nur Jenes sieht und den Wechsel an der Erscheinung desselben als unwesentlich erkennt: philokatholou gar ho philosophos (generalium amator philosophus).


Während die Geschichte uns lehrt, daß zu jeder Zeit etwas Anderes gewesen, ist die Philosophie bemüht, uns zu der Einsicht zu verhelfen, daß zu allen Zeiten ganz das Selbe war, ist und seyn wird. In Wahrheit ist das Wesen des Menschenlebens, wie der Natur überall, in jeder Gegenwart ganz vorhanden, und bedarf daher, um erschöpfend erkannt zu werden, nur der Tiefe der Auffassung. Die Geschichte aber hofft die Tiefe durch die Länge und Breite zu ersetzen: ihr ist jede Gegenwart nur ein Bruchstück, welches ergänzt werden muß durch die Vergangenheit, deren Länge aber unendlich ist und an die sich wieder eine unendliche Zukunft schließt. Hierauf beruht das Widerspiel zwischen den philosophischen und den historischen Köpfen: jene wollen ergründen; diese wollen zu Ende erzählen.


Die Geschichte zeigt auf jeder Seite nur das Selbe, unter verschiedenen Formen: wer aber solches nicht in einer oder wenigen erkennt, wird auch durch das Durchlaufen aller Formen schwerlich zur Erkenntniß davon gelangen.


Die Kapitel der Völkergeschichte sind im Grunde nur durch die Namen und Jahreszahlen verschieden: der eigentlich wesentliche Inhalt ist überall der selbe.“ ...............


„Eine wirkliche Philosophie der Geschichte soll also nicht, wie Jene alle thun, Das betrachten, was (in Plato's Sprache zu reden) immer wird und nie ist, und Dieses für das eigentliche Wesen der Dinge halten; sondern sie soll Das, was immer ist und nie wird, noch vergeht, im Auge behalten. Sie besteht also nicht darin, daß man die zeitlichen Zwecke der Menschen zu ewigen und absoluten erhebt, und nun ihren Fortschritt dazu, durch alle Verwickelungen, künstlich und imaginär konstruirt;


sondern in der Einsicht, daß die Geschichte nicht nur in der Ausführung, sondern schon in ihrem Wesen lügenhaft ist, indem sie, von lauter Individuen und einzelnen Vorgängen redend, vorgiebt, allemal etwas Anderes zu erzählen; während sie, vom Anfang bis zum Ende, stets nur das Selbe wiederholt, unter andern Namen und in anderm Gewande. Die wahre Philosophie der Geschichte besteht nämlich in der Einsicht, daß man, bei allen diesen endlosen Veränderungen und ihrem Wirrwarr, doch stets nur das selbe, gleiche und unwandelbare Wesen vor sich hat, welches heute das Selbe treibt, wie gestern und immerdar:


sie soll also das Identische in allen Vorgängen, der alten wie der neuen Zeit, des Orients wie des Occidents, erkennen, und, trotz aller Verschiedenheit der speciellen Umstände, des Kostümes und der Sitten, überall die selbe Menschheit erblicken. Dies Identische und unter allem Wechsel Beharrende besteht in den Grundeigenschaften des menschlichen Herzens und Kopfes, – vielen schlechten, wenigen guten. Die Devise der Geschichte überhaupt müßte lauten: Eadem, sed aliter. Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er, in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte studirt. Denn da steht schon Alles, was die folgende Weltgeschichte ausmacht: das Treiben, Thun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts, wie es aus den besagten Eigenschaften und dem physischen Erdenloose hervorgeht. –„

 

VIII. Ernst Bloch

 

deutscher Philosoph und Marxist (1885-1977) schrieb 1949 sein Werk „Avicenna und die aristotelische Linke“, in dem er nicht nur seine Vorliebe für Aristoteles und Avicenna verriet, sondern die Welt mit der Erkenntnis beglückte, wie auch seine Vorgänger im übrigen, dass gedachte Gedanken zurückkehren.

 „Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe. Nicht nur sein Denker, sondern vor allem das zu Bedenkende hat sich unterdessen geändert. Das Gescheite hat sich daran neu und selber als Neues zu bewähren.“

Die Rückblenden Blochs sind unverkennbar. Das Wort „Gescheite“ macht die Anleihe an Goethe Faust.

Das weitere lässt an Heraklit erinnern, dass man nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen kann (panta rhei). Heraklit und Bloch haben unzweifelhaft recht.