Rudi Kölmel im Februar 2005 i.d.F. vom 28.02.2006

 

Suizid

Freitod, Weg ins Elysium - Inanspruchnahme der Freiheit oder wider die ethischen Sittenwächter

 

Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert. Über Jahre hinweg höre ich von Menschen, die freiwillig aus dem Leben gehen. Schon immer wollte ich dazu ein paar Gedanken aufschreiben, jedoch habe ich es immer wieder verworfen. Nachdem jemand , den ich kannte, vor kurzem die Schienen singen hörte, schiebe ich es nicht mehr hinaus.

Durch die Zeiten hinweg hieß es, dieser oder jener sei gegangen, habe sich getötet, umgebracht, sich selbst gemordet. Semantische Betrachtungen über den Sinngehalt dieser unterschiedlichen Bezeichnungen wären selbst buchfüllend, dies möchte ich überspringen. Auch möchte ich nicht aufgreifen, aus welchen der vielgeschichtigen einzelnen Gründen Menschen den Freitod wählen, die Trauerbewältigung der Hinterbliebenen ist auch ein eigenes Thema.

Hingegen möchte ich die Frage klären, ob in der langen Dauer der dualistischen Betrachtung, die schon über zweitausend Jahre währt, eine Seite das Recht besitzt, die ethische Zulässigkeit mit Hilfe religiös-transzendentalem Hintergrund zu verwerfen.

Welches Gewicht dem Freitod zukommt, mag man daran ersehen, dass dadurch mehr Menschen als durch Verkehrsunfälle ums Leben kommen.

Auch möchte ich das Ergebnis des Ansinnens, entgegen meiner üblichen Gewohnheit, vorwegnehmen.

 

Ich sehe in der Möglichkeit des Freitodes die höchste und ultimativste Verwirklichung einer ausschließlich der Spezies Mensch gegebenen, damit auch naturgemäßen, virtuosen Spielart, nämlich die Signatur der Freiheit, die nicht mehr dem beliebigen Regelwerk ethischer Festschreibungen unterworfen ist. Der Schmetterling, in der Grabsymbolik das Symbol der befreiten Seele soll fliegen dürfen, sollte er fliegen wollen. 

 

Bevor sich das Christentum umfassend mit dem Thema beschäftigte, machte sich Aristoles dazu Gedanken. Er bietet zwei Sichtweisen an, im wesentlichen lehnt er den Freitod aber ab.

In Buch 3 Kapitel 1 (1110a-1110b) stellte er zunächst fest, dass man sich zu einigen Dingen vielleicht überhaupt nicht zwingen lassen, sondern eher sterben und das Schlimmste erdulden soll. Das Schlimmste erklärt er in Kapitel 9 „Das Furchtbarste aber ist der Tod“. Leider zählt er die Dinge jedoch nicht auf. Suizidenten bezeichnete er in Buch 3 Kapitel 11 (1115b-1116a) der Nikomachischen Ethik als feige, soweit sie den Tod aus Gründen der Armut, Schmerz oder der Liebe suchen. In Kapitel 15 des fünften Buches (37b-1138a) lieferte er dann die Steilvorlage für die Auffassung der späteren absolutistischen Herrscher und das Christentum, nämlich, dass derjenige sich am Staat vergeht, der sich im Zorn selbst tötet. Gerade deswegen und auch wegen dem Antagonismus zu den Ausführungen unter Kapitel 1 vermag deshalb Aristoteles nicht zu überzeugen. Er war auch Vorlage für die Philosophen, die aus Gründen des Broterwerbs geneigt waren, die  Auffassung der Feudalherrscher und der Papstoligarchie zu vertreten.

 

Für mich interessant ist beispielhaft die Betrachtung des Christentums als Vertreter monotheistischer Religionen, wo schon früh damit begonnen wurde, mit allen Mitteln gewaltige Bollwerke gegen die ethische Zulässigkeit des Freitods zu errichten, die an Festungen mit meterdicken Mauern erinnern.

Dies mag bei der näheren Betrachtung des Monotheismus nicht verwundern, der vom Grundgedanken ausgeht, dass dem einen Gott alles gehört, mithin auch das Leben jedes Menschen. Unter Bemühung auf Platon und dessen Uridee des Guten rackern sie sich ab, die tapferen Streiter des einen guten, edlen und allmächtigen Gottes, sie nannten sich Augustinus, Thomas von Aquin und ihre Hilfswilligen bis in jede Kirche des kleinsten Ortes.

In die Phalanx der Verteidiger der kirchlichen Positionen reihten sich etwa auch Kant, Hegel und Schopenhauer ein. Darunter welche, die eine weichere Ablehnung vertraten, als die Kirchenlehrer. Dies sah dann teilweise etwa so aus, dass sie es nicht absolut mit dem 6. Gebot begründeten, sondern mit dem Gesellschaftsvertrag, in den jedes Leben eingebunden ist.

 

Hier angekommen, darf schnell angedacht werden, ob diese und andere Philosophen in ihrer Zeit wirklich so frei waren, alles sagen zu dürfen, was sie wollten.

 

Mir fällt auf, dass viele Denker jener Zeit, etwa als Rechts-, Hauslehrer oder als Professoren, mehr oder weniger von staatlichen Strukturen abhängig waren und sich „gewissen Vorgaben" aus existenziellen Gründen nicht entziehen konnten oder wollten. Oft waren sie auch selbst Opfer einer alterhergebrachten religiös motivierten Erziehung, das bei ihnen entstandene Weltbild konnten sie dann trotz aller Philosophie nicht mehr abschütteln.

 

Hegel absolvierte ein Theologiestudium, war Hauslehrer, Redakteur der Bamberger Zeitung und Gymnasialdirektor. Kant entstammte einem sehr religiös geprägten Elternhaus, war Hauslehrer, Privatdozent und später Rektor der Universität Königsberg. Schopenhauers Vater soll selbst Suizident gewesen sein, er war Professor an der Universität Berlin.

So und nun möchte ich eine Vermutung wagen.

 

Hätte beispielsweise einer der o.g. Personen auch nur andeutungsweise eine Kritik geäußert, die später ein Nietzsche mit der „Gott-Ist-Tot-Erklärung" in seinem Buch „Die Fröhliche Wissenschaft" wagte, hätte er schon früh die spätere Existenzphilosophie Heideggers erfahren können, er wäre nämlich seines Broterwerbs verlustig geworden.

 

Nietzsche sollte, obwohl sich dies viele Jahre später abspielte, seiner Kritik wegen in große Isolation geraten.

 

Er ließ bereits in Kapitel 8 seines Werkes „Der Antichrist" anklingen, wie er die deutsche Philosophie mit Theologenblut durchwirkt sah, um in Kapitel 10 dann festzustellen, dass die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt sei, da diese Menschen zu allen Dingen schief stehen. Auch fragte er darin, woher das Frohlocken komme, das beim Auftreten Kants durch die deutsche Gelehrtenwelt ging, die aus drei Vierteln aus Pfarrer- und Lehrersöhnen besteht.

Hieraus folgere ich für mich, mag uns das Erbe eines Kant noch so beglückenswert erscheinen, dass man Erkenntnis durch Vernunft gewinne, seine moralethischen Ergüsse hinsichtlich der ethischen Erlaubtheit des Suizids sind für mich nicht berauschend, erinnern mich eher an die Lauheit aufgewärmten Spülwassers.

 

Nicht unwichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang die erscheinende Parallelität zwischen Kirche und Staat.

 

Frühere absolutistische Staaten forderten vom Bürger Gehorsam, wer sich selbst tötete verweigerte den Gehorsam. Er konnte auch keine Steuern mehr zahlen und er konnte auch kein Soldat mehr sein. Aus diesen Gründen wurde auch die Selbsttötung als schwere Sünde hingestellt, das Instrumentarium war die Bibel. Die christliche monotheistische Kirche hatte die gleiche Machtausrichtung, ein Suizident fiel auch als Kirchensteuerzahler aus (Abgabe des Zehnten). So kam es zu der Bettgenossenschaft zwischen Kirche und der staatlichen Ordnung, die bis heute anhält.

 

Folgend werde ich eine gedankliche Parallelstraße befahren, um in einer ganz kurzen Betrachtung der tatsächlich gelebten Werteordnung aufzuzeigen, zu welchen ethisch-sittlichen Höchstleistungen sich das Christentum emporschwang, um aber völlig ungerührt davon, ständig dem Klientel die eigene Unbelecktheit zu bekunden.

 

Wie glaubhaft ist eigentlich der im Pflichtenheft der 10 Gebote kanonisierte christliche Imperativ des 6. Gebots, das Moses von Gott erhalten haben soll, nämlich nicht töten zu sollen, von dem der Scholastiker Augustinus aber die Ausnahme sah, Menschen sehr wohl töten zu können, soweit Gott dies wolle oder befehle?

 

Wie bindend soll also dieser Imperativ für Menschen sein, mit dessen Ausnahmeregel in Gottes Namen zwischen 1096 und 1291 in sieben Kreuzzügen 20 Millionen Menschen getötet wurden, mit dessen Ausnahmeregel die Heilige Inquisition in einem bluttriefenden Schlachtzug durch mehrere Jahrhunderte dann über 10 Millionen Menschen zu Tode ketzerte und dieses alles dem obersten Vertreter, dem Papst, erst in den letzten Jahren eine billige Entschuldigung wert war.

 

Wie lernfähig ist der Mensch angesichts der Tatsache, dass der Staat sich eine Kirche mit so einer Holocaust-Vergangenheit als merkwürdigen Bettgenossen in sein Haus holt, und deren Jahrhunderte lange Kriminalisierung der Suizidenten dann durch die Implementierung eines Paragraphen 216 STGB (Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen) fortführt.

 

Wie sehr Staaten heute noch bereit sind, die christliche Kriminalisierungsideologie anzuwenden, zeigt sich bei den Vereinigten Staaten von Amerika.

Im Banne des Überfalls auf das World-Trade-Center im Jahre 2001, des neuzeitlichen Pearl Harbour, hat in Amerika mit der „God in trust" Kampagne eine Sakralisierung der Postmoderne begonnen, um in einem religiös motivierten Kreuzzug gegen das angeblich Böse, dem Rest der Welt den amerikanischen Alleinherrschaftsanspruch, die pax americana, aufzuzwängen.

Mir erscheinen die aufgeworfenen Fragen bereits zuviel, sie sind selbstredend. Sie zeigen überdeutlich auf, dass es diesen übereifrigen christlichen Apologeten (Menschen, die mit Vehemenz und Uneinsichtigkeit ihre Positionen verfolgen) nur darum ging, unter Vorspiegelung von Sitte und Ethik, einen Schutzwall, methaphermäßig eine chinesische Mauer des Denkens, gegen Mündigkeit und zur Machterhaltung zu errichten.

 

Also gehe ich auf die Suche nach früher vertretenen Positionen, die ungeachtet einer etwaigen Beeinflussung durch Dritte entstehen konnten.

 

Den Kirchenlehrern, den gewollten oder ungewollten sonstigen Philosophen möchte ich eine Denkrichtung gegenüberstellen, die in ihrer Blüte so mächtig war, dass dort freitodspezifische Gedankengänge ohne irgendwelche Schranken angestellt werden konnten, dies auch einige hundert Jahre nach Platon und dem sich gerade entwickelnden Christentum, die stoische Lehre.

 

Die Stoiker, die Stoa war in Rom eine Art Staatsreligion vor dem Christentum kritisierten von Anfang an Platons Idee der Ablehnung des Suizids. Die herausragendsten Persönlichkeiten jener Zeit waren Epikur, Marcus Aurelius sowie Seneca, die neben einer Diesseitsbejahung den jederzeit gehbaren Weg des Suizids sahen. Einer der Grundgedanken der stoischen Philosophie ist das zu tun, was der Natur, dem Wesen entspricht. Nach dieser Vorgabe ist es zunächst erstrebenswert, sich als gemeinschaftsbezogenes Lebewesen zu sehen und im Sinne der Gemeinschaft zu handeln.

Die Menschen errangen mit fortschreitender Zeit immer größere Mündigkeit und traten immer häufiger aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit hinaus. Es kam die Zeit des Skeptizismus, die Atheisten wurden zahlreicher. Für Agnostiker gibt es keinen zwingenden Glauben an einen Gott, monotheistische Positionen sind ihnen fremd, da sie aus deren Sicht der wissenschaftlichen Betrachtung nicht standhalten. Mit der Zeit stieg die Zahl derer, die den Suizid für ethisch vertretbar halten, sie nannten sich vor allem David Hume, Montaigne, der Skeptizist Cioran und in der heutigen Jetztzeit verstärkt sich der Druck auf die Politiker für eine legalisierte Sterbehilfe immer mehr.

 

Der Mensch ist in seiner Sozialisation eingebunden in ein System von Zwängen, Abhängigkeiten und dem Erwartungshorizont Anderer. Die optionalen Bedingungen seiner Existenz sind falsifizierbar.

 

Er wird geboren, ohne gefragt zu werden. Er muss atmen, damit er nicht erstickt, er muss essen und trinken, damit er nicht verhungert oder verdurstet. Die Spezies muss sich fortpflanzen, damit sie nicht ausstirbt. Dazwischen bestehen weite Freiräume, die das Individuum entweder weiträumig genießen kann, oder die es so eingegrenzt sieht, dass ihm die ureigene wesensmäßige Existenz nicht mehr möglich erscheint.

 

In Anlehnung an den Freitod als eine naturgegebene Erscheinung stelle ich die provokative Frage, weshalb dieses Vorrecht der Entscheidung gerade der Spezies Mensch und nicht dem Tierreich gegeben wurde, obwohl ich eigentlich der Meinung bin, dass der Mensch auch nichts anderes ist, wie ein anthropologischer Affe. Es war doch wohl nicht nur eine Laune der Natur, sondern wir wissen, dass es das Ergebnis des anthropologischen Menschwerdungsprozesses war. Damit ist es eindeutig naturgemäß, da es eben existent ist. Wenn es aber naturgemäß ist, weshalb sollte es dem Mensch dann verwehrt bleiben, diese naturgegebenen Möglichkeiten auch auszuschöpfen.

 

Wenn dem Menschen nun durch die a priori-Kraft dieser Erkenntnis der eigenen Selbstmächtigkeit, die Befähigung zur ehrenvollen Beendigung des eigenen Lebens erwächst, weshalb sollte für ihn dann gerade das monotheistische Einbahnstraßendenken einer christlichen Repressionsmaschinerie, ein Überbleibsel des rückwärtsgewandten und fortschrittsfeindlichen Denkens der Scholastik, eine wirksame Schranke der ihm naturgegebenen Entscheidungsgewalt darstellen.

 

Die Antwort ist für mich klar.

 

Wer seine eigene Selbstmächtigkeit fühlt, braucht sie nicht mehr, diese selbsternannten herrschafts- und etatgesteuerten obersten Gralshüter der Moralität, er wird nicht mehr zum Opfer einer geistigen Kontamination.

 

Die naturgegebene Signatur der Freiheit als höchste Autorität findet der Mensch, der in den Urgrund seiner Seele hinabsteigt. Er entscheidet sich und egal, wie er sich entscheidet -auf das weshalb kommt es in dieser Phase überhaupt nicht an- ist es für ihn so das Beste.

 

Damit komme ich zur Frage, wie frei ist der Mensch überhaupt auf dem Weg zur höchsten Autorität der Freiheit, trifft er die Suizidentscheidung überhaupt im Zustand der Willensfreiheit?

Dieser Frage nachzugehen, offenbart eine Fülle von Denkrichtungen, deren Betrachtung hier in der Tiefe unterbleiben kann, deren umrisshafte Darstellung für die Suizidfrage dennoch von Bedeutung ist. Sie zeigt auch den Zwist zwischen Philosophie, die sich für diese Ethikfragen in der Vergangenheit für zuständig erachtete und der heutigen modernen Neurologie.

Man könnte grob sagen, vor dem Zeitalter der Aufklärung war man überwiegend der Auffassung vom freien Willen. Dies entspricht der abendländisch-christlichen Tradition, wonach Gott den  Menschen den freien Willen lasse, gut oder böse zu sein. Ab der Aufklärung begann dann mit der Entwicklung der neuen Naturwissenschaften der Siegeszug des Determinismus.

 

Der Determinismus (Demokrit, Schopenhauer, Spinoza, Benjamin Libet, heutige Neurologie) besagt, dass das Zukünftige vollkommen vom Geschehenen abhängt und dadurch bestimmt wird, die Zukunft damit vorherbestimmt ist. Die harten Deterministen leugnen jegliche Willensfreiheit, freier Wille und die Vorherbestimmtheit seien nicht kompatibel. Daneben gibt es dann die Spielart des weichen Determinismus, der sich Kompatibalismus (David Hume) nennt. Von Bedeutung ist hierbei zunächst die Philosophie Schopenhauers, die in der Konsequenz um 150 Jahre den Erkenntnissen der späteren Neurologie vorgriff. Er trifft die einleitende Aussage „Ich kann tun, was ich will!“. Diese Aussage siedelt er im Bereich des aktiven Bewusstseins an. Darüber hinaus prägt er in der Schrift „Über die Freiheit des menschlichen Willens den Begriff des Wollens, den er dem Bereich des Unbewussten zuordnet. Dadurch kommt er zur entscheidenden Frage, „Kann ich wollen, was ich will?“. Er kam letztlich zum Ergebnis, dass die Theorie des freien Willens ein Betrug des Selbstbewusstseins sei, ein Selbstbetrug, eine Illusion. Für in etwa die gleiche Erkenntnis durfte sich Freud dann später feiern lassen, mit der der Menschheit die sogenannte „psychologische Kränkung“ verabreichte. Der Kernsatz Freuds geht davon aus, das „Ich sei nicht Herr im eigenen Hause“. Die heutigen Vertreter der Neurologie, etwa Dr. Wolfgang Prinz, ergänzen Schopenhauers Wortspiel „Kann ich wollen was ich will“ um die Ergänzung „Wir tun nicht, was wir wollen, wir wollen, was wir tun“.

 

Abschließend sollte zu Schopenhauer noch auszugsweise aus seiner Schrift die Passage über die Pistole und das Motiv zitiert werden. Er meinte hierzu folgendes:

 

„Ebenso irrig meint Mancher, indem er ein geladenes Pistol in der Hand hält, er könne sich damit erschießen. Dazu ist das Wenigste jenes mechanische Ausführungsmittel, die Hauptsache aber ein überaus starkes und daher seltenes Motiv, welches die ungeheuere Kraft hat, die nöthig ist, um die Lust zum Leben, oder richtiger die Furcht vor dem Tode, zu überwiegen: erst nachdem ein solches eingetreten, kann er sich wirklich erschießen, und muß es; es sei denn, daß ein noch stärkeres Gegenmotiv, wenn überhaupt ein solches möglich ist, die That verhindere."

 

Libet führte 1979 den experimentellen Beweis für die Herrschaft des Unbewussten. Testpersonen sollten Handbewegungen vornehmen, während dessen die Gehirnaktivitäten gemessen wurden. Das aktive Bewusstsein, die Handbewegung vorzunehmen, setzte erst ungefähr eine halbe Sekunde nach dem Zeitpunkt ein, in dem das Gehirn seine Vorbereitungen begonnen hatte. Das limbische System ist der Speicherort der unbewussten Erfahrungen und der Gefühle. Das Gehirn entscheidet also autonom, es braucht keinen weiteren Konstrukt eines freien Willens. Damit bleibt bis auf weiteres die Erkenntnis bestehen, dass für Handlungen sich  nicht das Bewusstsein (also, was ich will), sondern das Unbewusste als erster Beweger darstellt. Andere Gehirnforscher, so etwa Professor Gerhard Roth, glauben im Gegensatz zu Libet  sogar, dass vom Gehirn vorbereitete Handlungen nicht mehr durch Planen, Abwägen oder Eingreifen, steuern oder abbrechen können. Danach seien sogar diese Prozesse den unbewusst funktionierenden Gehirnteilen zuzuschreiben.

Neuronal gesehen, stellt die Entscheidung zum Suizid das Ergebnis eines innerpsychischen Prozesses in einem neuronalen Mikrokosmos dar. Es sind gigantische Operationen der Kommunikation von Nervenzellen untereinander, die physiochemisch beschreibbar sind. Hierzu können Imagination, Gefühlsleben, Gefühlsakte (wahrnehmen, beachten, denken, vorstellen), Empathie, Treffen von Entscheidungen, Planungen, gehören. Die einzelnen Gründe (Beziehungsprobleme, Existenzprobleme, Krankheiten und mehr) sind komplex und vielschichtig, eine Einzelbetrachtung kann an dieser Stelle jedoch unterbleiben.

Vom Gefühl her meine ich, dass es wohl nur ganz wenige Menschen gegeben hat, die die Entscheidung des Freitodes relativ  frei von äußerlichen Beschwernissen oder Zwängen gegangen sind. Die historische Figur des Sokrates könnte möglicherweise ein Beispiel dafür sein, wurde ihm doch die Möglichkeit gelassen, zu fliehen oder den Schierlingsbecher zu trinken. Interessant wäre dazu, die Meinung eines Gehirnforschers einzuholen..

Diese Fragen sind letztlich für mich aber nur von sekundärer Bedeutung, da ein mehr oder weniger eingeengter Weg zur Entscheidung des Suizids den Gesinnungswert der dem Fragenkomplex zugrundeliegenden Moralität nicht mindern kann. Die meisten Menschen, die diesen Schritt wählen, tun diesen sicher in dem Bewusstsein, damit den einzigen ihnen noch möglichen Weg zu gehen bzw. die beste der vorhandenen Alternativen zu wählen. Auf das, inwieweit das Unbewusste hier Regie führt, kommt es dann nämlich nicht mehr an.

Für mich ist es klar, dass die Inanspruchnahme der Möglichkeit zum Suizid die am meisten zu respektierende menschliche Entscheidung ist und sich des Rechts auf ethische Wertung durch Andere entzieht.

 

Philosophischer Nachtrag, Originaltext

I Pro ethischer Erlaubtheit des Freitods

I.1 Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen,

 

a) 3. Buch Anm. 1

 

Im Anschluss der Beschreibung der Zunahme körperlicher Beschwernisse im fortschreitenden Alter stellte er in Kapitel 1 des 3. Buches Überlegungen dazu an, Möglichkeiten der Inanspruchnahme des Freitods bei noch wachem Geist anzustellen :

„Doch über sich selbst zu verfügen, seine einzelnen Pflichten sorgfältig auseinander zu halten, die Phänomene zu unterscheiden, sich vor allem im klaren zu sein, ob man seinem Leben schon ein Ende machen muss, und was sonst noch einen besonders gut geschulten Verstand voraussetzt, all diese Fähigkeit nehmen deutlich ab".

 

b) 5. Buch, Anm. 29

 

In 5,29 setzt er sich mit den Konsequenzen auseinander, sollte einem ein in Übereinstimmung mit der Natur zu führendes Leben unmöglich gemacht werden:

„Wie Du zu leben beabsichtigst, wenn Du fortgegangen bist, so kannst Du auch schon hier leben. Wenn sie Dich aber nicht lassen, dann geh aus dem Leben, doch so, dass es nicht den Anschein hat, dir widerführe etwas Schlimmes. Da ist Rauch, und ich gehe weg. Warum ist das deiner Meinung nach etwas Besonderes? Solange mich aber nichts derartiges verjagt, bleibe ich als freier Mann, und niemand hindert mich zu tun, was ich will. Ich will es aber in Übereinstimmung mit der Natur des vernünftigen und gemeinschaftsbezogenen Lebewesens".

 

c) 10. Buch Anm.8

In 10.8 bezeichnet er die Gleichmut als erstrebenswert, freiwillig hinzunehmen, was einem von der allgemeinen Natur zugewiesen wird. Auch solle man gut, zurückhaltend und wahrheitsliebend sein.

„Lass dich also auf diese wenigen Begriffe ein. Und wenn du bei ihnen bleiben kannst, dann bleibe, als ob du zu den Inseln der Seligen übergesiedelt seiest. Wenn Du aber bemerkst, dass Du dich von ihnen entfernst und nicht die Kraft dazu hast, dann zieh dich voller Zuversicht in einen Winkel zurück, wo du wieder Kraft schöpfst, oder geh ganz aus dem Leben, ohne zu grollen, sondern in aller Stille, in innerer Unabhängigkeit und Bescheidenheit. Dann hast Du wenigstens dieses eine in deinem Leben verwirklicht, so zu sterben".

 

d) 10. Buch Anm. 31

 

In 10,31 stellt er die Möglichkeit des Freitods bei der Gewinnung der Erkenntnis auf, falls man nicht gut sein könne.

„ Keinem der über dich die Wahrheit sagen will, soll es möglich sein, zu behaupten, dass du nicht einfach oder nicht gut bist, sondern wer dir etwas derartiges unterstellt, soll sich als Lügner erweisen. Aber alles das liegt im Bereich deiner Möglichkeiten. Denn wer könnte dich daran hindern, gut und einfach zu sein? Du musst dich nur dazu entschließen, nicht mehr zu leben, wenn du nicht so sein wirst. Denn auch der Geist will es nicht, dass du weiterlebst, wenn du nicht so bist."

 

I.2 Seneca

 

a) , de tranquillitate animi, „Vom glücklichen Leben" Von der Seelenruhe, Brief an Bruder Gallio

 

„Wann immer die Natur mein Leben zurückfordert oder die Vernunft es aufzugeben rät, werde ich scheidend Zeugnis ablegen, dass mir ein reines Gewissen und edles Streben Herzenssache waren, dass ich nie eines Menschen Freiheit eingeschränkt habe noch ein anderer die meine. Wer sich dies zu tun vornimmt, Willen und Tatkraft zeigt, ist schon unterwegs zu den Göttern."

 

b) epistula morales 12, Moralische Briefe an Lucillius Brief 12 (Die Lebensalter)

 

„Ein Übel ist´s, unter Zwang zu leben, doch unter Zwang weiterzuleben, besteht kein Zwang! Und warum kein Zwang?

Es stehen überall viele kurze, leicht gangbare Wege zur Freiheit offen. Danken wir es der Gottheit, dass niemand im Leben zurückgehalten werden kann (Agamus Deo gratias, quod nemo in vita teneri potest) . Selbst die Not können wir unter unsere Füße treten!"

 

c) epistula morales 65, Moralische Briefe an Lucillius, Brief 65 (Grundursachen des Naturgeschehens)

 

Seneca sieht den Körper als Fessel der Freiheit, dem man jederzeit die Gemeinschaft aufkündigen kann:

„Nein, ich bin erhabener und zu Größerem geboren, als dass ich zum Sklaven meines Körpers werden könnte, der für mich doch nicht mehr ist als eine der Fesseln meiner Freiheit....... Die Gemeinschaft werde ich ihm aufkündigen, sobald es mir gutdünkt."

 

d) epistula morales 70, Moralische Briefe an Lucillius 70

„Nach langer Zeit habe ich dein geliebtes Pompeji wiedergesehen. Meine Jugendzeit trat mir wieder vor Augen, und alles, was ich als Jüngling getan. Ich hatte das Gefühl, ich könnte das auch jetzt noch, ja, ich hätte es eben erst vollbracht. Wir sind dem Leben vorausgeeilt, Lucilius. Wie auf einer Seefahrt, nach den Worten Vergils, »enteilen Länder und Städte«, so haben wir im rasenden Ablauf der Zeit erst unsere Kindheit aus den Augen verloren, dann die Jünglingszeit, später alles, was zwischen Jugend und Alter liegt und an beide grenzt, und endlich die kostbarsten Jahre des eigentlichen Greisenalters. Zuallerletzt, da zeigt sich so langsam die Grenze, die dem Menschenleben gezogen ist.

Für eine gefährliche Klippe halten wir sie, wir Toren ! Ein Hafen ist sie, manchmal wünschenswert, nie abzulehnen. Wer schon in frühen Lebensjahren dahin verschlagen wird, hat nicht mehr Grund zur Klage als ein Mensch, der in schneller Fahrt dort ankam. Denn du weißt ja : flaue Winde treiben ihr launisches Spiel, halten gar manchen fest und machen ihn müde durch Widerwillen und Wut über die schleppende, tötende Windstille — den andern trägt eine immer gleichbleibende, frische Brise unverhofft schnell ans Ziel. Genauso ergeht es uns : manche Menschen führt das Leben in hurtigem, wildem Laufe zu dem Ziel, das ihr Schritt auch bei Zögern und Zagen erreichen müßte, und die anderen knetet es sozusagen mürbe und kocht es gar. Du siehst : nicht immer soll man das Leben festhalten. Denn nicht an und für sich gehört es zu den Gütern, sondern nur das sittlich einwandfreie Leben.

Daher lebt der Weise, der Philosoph so lange, wie es die sittliche Pflicht verlangt, nicht solange er kann. Er wird Ausschau halten wo, mit wem, wie er leben und wirken soll. Immer richtet er sein Sinnen und Trachten auf die Art des Lebens, nicht auf die Länge. Tritt ihm zuviel entgegen, was ihn belastet, was die Seelenruhe ihm stört, dann wirft er des Lebens Fesseln ab. Nicht nur in letzter, höchster Not — nein, wenn seine Lebensbahn ihm verdächtig vorkommt, dann prüft er in gewissenhafter Selbsteinkehr, ob er sofort ein Ende machen muss. Dabei ist ihm unwesentlich, ob er selbst oder ein anderer ihm das Ende bringt, ob es früher oder später kommt. Er fürchtet sich nicht davor wie vor einem großen Verlust. Niemand kann viel beim Entschwinden des Lebens verlieren. Früher zu sterben oder später — das ist unwichtig; wichtig ist nur, ob man anständig oder schäbig stirbt. Anständig sterben aber heißt : der Gefahr eines schlechten Lebens aus dem Wege gehen. Daher halte ich für völlig weibisch die Äußerung des bekannten Mannes aus Rhodos, der vom Tyrannen in einen Käfig gesperrt, wie ein wildes Tier gefüttert wurde und einem Bekannten, der ihm riet, die Nahrung zu verweigern, erwiderte : »Alles darf der Mensch erhoffen, solange er noch lebt.« Angenommen, die Geschichte sei wahr, so darf man doch das Leben nicht um jeden Preis erkaufen : Mögen manche Vorteile groß, gesichert sein — durch ein schimpfliches Eingeständnis meiner Schwäche möchte ich dennoch nicht in ihren Genuß kommen. Welchen Gedanken soll ich vorziehen ? Daß das Schicksal an dem Menschen während seines Lebens alles zu tun vermag, — oder den andern, daß es gegen den Menschen, der zu sterben weiß, gar nichts auszurichten vermag ?

Es gibt Gelegenheiten, wo der wahre Philosoph, auch wenn ihm der siche´re Tod droht und er weiß, daß seine Hinrichtung beschlossene Sache ist, dennoch seine Hand nicht hergeben wird zur Ausführung seiner Strafe : für sich selbst würde er das tun. Torheit ist es, aus Todesangst Selbstmord zu verüben. Er kommt, der dich töten soll; erwarte ihn ! Warum willst du ihm vorgreifen ? Weshalb übernimmst du die Durchführung grausamer Befehle anderer ? Beneidest du deinen Henker darum oder willst du ihn schonen ? Sokrates hätte durch Hungerstreik seinem Leben ein Ende machen und statt durch Gift durch Hunger sterben können. Trotzdem verbrachte er dreißig Tage im Kerker in Erwartung des Todes, nicht etwa in dem Glauben, es könne noch ein Wunder geschehen, als verbürge die lange Zeit noch allerlei Hoffnungen, nein : er wollte dem Gesetz genügen und seinen Freunden einen Sokrates schenken, von dem sie bis zum letzten Atemzuge im Umgang Genuß und Vorteil hätten. Was hätte törichter sein können, als den Tod zu verachten, das Gift aber zu fürchten ?

Scribonia, eine bedeutende Frau, war die Vaterschwester des Drusus Libo, eines ebenso törichten wie adelsstolzen Jünglings. Ehrgeizig streckte er seine Hand nach höheren Zielen aus, als in jenem Zeitpunkt möglich war und er selbst jemals hätte erreichen können. In seiner Sänfte hatte man ihn eines Tages krank aus dem Senat nach Hause gebracht, mit nicht gerade großem ›Leichengefolge‹; denn alle, die ihm nahestanden, hatten ihn rücksichtslos verlassen, als sei er bereits tot, nicht angeklagt. Da hielt er mit den Seinen Familienrat ab, ob er sich dcn Tod geben oder ihn erwarten solle. Scribonia erklärte : »Was kann dir daran liegen, die Arbeit anderer zu tun ?« Sie konnte ihn nicht umstimmen : er legte selbst Hand an sich, und das nicht ohne Grund. Denn wer nach dem Willen seiner Feinde drei, vier Tage später sterben soll und sich noch am Leben erhält, der dient nur der Sache anderer.

Man kann also nicht allgemeinverbindlich ein Urteil darüber fällen, ob man den Tod, wenn äußere Gewalt ihn androht, sich selbst geben oder abwarten soll. Es gibt mancherlei Umstände, die uns nach der einen oder anderen Seite treiben können. Ist der Tod im einen Falle mit Foltern und Qualen verbunden, im andern ganz schlicht und leicht — ja, warum soll ich dann nicht den letzteren wählen ? Wie ich mir ein Schiff aussuche, mit dem ich in See gehe, ein Haus, in dem ich wohnen will, so wähle ich mir auch die Todesart, wenn ich aus dem Leben scheiden will. Außerdem : so wahr ein längeres Leben nicht unbedingt für jeden Menschen das bessere ist, so sicher ist ein längerer Tod für jeden und auf jeden Fall der schlechtere Weg. Bei keinem Lebensvorgang müssen wir der seelischen Verfassung mehr Rechnung tragen als beim Tode : der Mensch mag den Lebensabschluß wählen, zu dem ihn innerer Drang treibt, ob er zum Schwerte greift, zum Strick, zum Gift, das durch die Adern strömt — wohlan ! er soll nur die Fesseln der Knechtschaft zerreißen ! Für das Leben braucht jeder die Rechtfertigung anderer Menschen, für den Tod nur die eigene : der beste Tod ist der, der uns gefällt. Torheit, sich Gedanken zu machen wie folgende : »Manch einer wird mir fehlenden Mut vorwerfen, ein anderer übereiltes Handeln, ein dritter, es hätte auch eine mutvollere Todesart gegeben.« Bedenke doch, daß es sich hier um einen Entschluß handelt, an den das Gerede der Menschen nicht heranreicht ! Das einzige, worauf du zu achten hast, ist dies : dich so schnell wie möglich dem Zugriff des Schicksals zu entziehen. Es wird schon Leute genug geben, die über deine Tat die Nase rümpfen.

Man findet auch Vertreter der Philosophie, die es ablehnen, ihrem Leben mit Gewalt ein Ende zu machen, und es für eine Sünde erklären, sein eigener Mörder zu werden : man habe das Lebensende abzuwarten, das die Natur bestimmt habe. Wer das sagt, verkennt, daß er sich damit den Weg der freien Entscheidung versperrt. Nichts Besseres hat uns das ewige Gesetz geschenkt, als daß es uns einen einzigen Eingang ins Leben gab, doch viele Ausgänge. Soll ich wirklich auf die Grausamkeit einer Krankheit oder eines Menschen warten, wenn ich die Macht habe, mitten aus allen Folterqualen ins Freie zu gelangen und alle Widerwärtigkeiten loszuwerden ? Das ist ja das einzige, worin wir über das Leben nicht klagen können : es hält niemanden. In dem Punkt steht es gut um alle menschlichen Belange : wer unglücklich ist, ist selber schuld. Gefällt dir das Leben, so lebe ! Gefällt's dir nicht, so hast du die Freiheit, wieder dort hinzugehen, von wo du kamst. Um Kopfschmerzen zu lindern, hast du dir schon oft Blut abnehmen lassen. Um das Körpergewicht herabzusetzen, läßt man dich zur Ader. Es ist nicht vonnöten, der Brust eine klaffende Wunde zuzufügen : mit einem kleinen Messerchen öffnet man sich den Weg zur großen, ewigen Freiheit — die Sorgenfreiheit und Ruhe kostet nur einen Stich.

Welches ist denn der Grund, der uns träge und energielos macht ? Niemand von uns Menschen denkt darüber nach, daß er doch einmal seine irdische Behausung verlassen muß : so hält wohl auch alte Mieter die Gewöhnung an den liebgewordenen Platz trotz aller erfahrenen Kränkungen fest. Willst du unabhängig sein deinem Körper gegenüber ? Dann bewohne ihn, als wolltest du jeden Augenblick ausziehen ! Halte dir vor Augen, daß du eines Tages auf diese Wohngemeinschaft verzichten mußt : dann wirst du mehr Stärke zeigen bei der Notwendigkeit des Wegzugs. Wie aber können sich Menschen ihr Lebensende vor Augen halten, die maßlos alles und jedes wollen ?

In keinem Punkte ist unser Nachdenken so notwendig. Für andere Dinge des Lebens übt man sich nämlich überflüssig. Innerlich hat man sich auf die Armut eingestellt : der Reichtum ist geblieben. Für die Verachtung des Schmerzes haben wir uns geistig gewappnet : nie aber hat uns der glücklicherweise unverletzte, gesunde Körper eine Probe dieser Tugend abverlangt. Tapfer die Sehnsucht nach den heimgegangenen Lieben zu tragen, haben wir uns vorgenommen : alle unsere Lieben aber hat das Schicksal am Leben erhalten. Die Vorbereitung auf diese letzte Lebensfrage aber ist das einzige, was ein zukünftiger Tag bestimmt von uns fordern wird.

Man darf nicht glauben, nur große Männer hätten die Kraft besessen, die Schranken der irdischen Knechtung zu zerbrechen. Man soll auch nicht meinen, so etwas könne nur ein Cato vollbringen, der seiner Seele mit der Hand den Weg ins Freie öffnete, nachdem es dem Schwert nicht gelungen war. Auch Menschen einfachsten Standes haben sich mit wildem Elan in die Sicherheit des Todes geflüchtet. Da sie nicht nach ihrem Wunsche sterben und nach Belieben die Todesinstrumente aussuchen durften, griffen sie nach allem, was gerade zur Hand war, und machten gewaltsam Dinge zu Waffen, die von Natur harmlos und unschädlich sind. Neulich mußte bei einem Tierkampf ein Germane gerade während der Vorbereitungen auf die Vormittagsspiele eines Bedürfnisses wegen austreten : er hatte nicht die Möglichkeit, diesen Ort heimlich, ohne Wächter, aufzusuchen. Dort stieß er sich die Stange, die da, mit Schwamm versehen, zur Beseitigung des Kotes lag, in die Kehle und gab sich durch Zerstörung der Luftwege den Tod. Das heißt : dem Tod einen Possen spielen ! Doch weiter ! Diese Todesart war nicht sauber, und der Sitte entsprach sie auch nicht. Aber was ist törichter, als beim Tode wählerisch zu sein ? Dieser Held war würdig, sich sein Schicksal selbst zu wählen. Wie tapfer hätte er sein Schwert geführt, wie mutvoll sich in die Tiefe des Meeres oder von einer schroffen Klippe gestürzt ! Aller Hilfe bar, fand er den Weg, sich zum alleinigen Herrn über den Tod und die nötige Waffe zu machen, zum Beweis, daß es dem Tode gegenüber kein Hindernis gibt als den eigenen Willen. Über die Tat dieses entschlossenen Mannes mag jeder urteilen, wie es ihm beliebt — eins steht fest : der schmutzigste Tod ist der saubersten Sklaverei vorzuziehen.

Da ich einmal dabei bin, Beispiele aus den unteren Volksschichten anzuführen, will ich auch dabei bleiben. Denn jeder wird sich selbst mehr zumuten, wenn er erfährt, daß diese Angelegenheit auch von den verachtetsten Menschen gering eingeschätzt werden kann. Leute wie Cato, Scipio u. a., deren Namen wir immer mit Bewunderung hören, sind meines Erachtens jeder Nachahmung überhoben. So will ich dartun, daß ebenso viele Beispiele dieser Lebenshaltung bei Männern der Tierkämpfe vorkommen wie bei den Feldherren der Bürgerkriege. Als man neulich unter Bewachung einen Mann zu den Vormittagskämpfen hinfuhr, ließ er, als sei er schlaftrunken eingenickt, seinen Kopf so weit herabhängen, daß er in die Speichen des Karrens geriet; so lange hielt er auf seinem Sitz aus, bis die Umdrehung des Rades ihm das Genick brach. Derselbe Karren, der ihn zu seiner Hinrichtung fahren sollte, ermöglichte ihm die Flucht in die Freiheit.

Es gibt kein Hindernis, irgendwo wegzugehen oder fortzustürzen, wenn man nur will. Die Natur bewacht uns, aber in einem offenen Gefängnis. Wem seine Lage es gestattet, der schaue sich nach einem sanften Abgang um; wem mehr Mittel sich bieten, in die Freiheit zu gelangen, der treffe seine Wahl selbst und erwäge den besten Weg ! Wer aber nur schwer eine Gelegenheit findet, der greife zum ersten besten Mittel — mag es unerhört, noch nie dagewesen sein ! Wem der Mut zum Tode nicht fehlt, der wird auch die nötige Erfindungsgabe haben. Du siehst ja : auch Sklaven der niedrigsten Kategorie, wenn unerträglicher Schmerz sie zum Äußersten treibt, raffen sich auf und täuschen die strengsten Aufseher. Der ist ein großer Mann, der sich den Tod nicht nur befiehlt, sondern ihn auch findet.

Ich habe dir noch mehr Beispiele aus demselben Milieu versprochen. Bei der zweiten Aufführung der ›Seeschlacht‹ stieß sich ein Barbar die Lanze, die er zum Kampf gegen die Feinde erhalten hatte, tief in die Kehle. »Weshalb«, rief er, »entfliehe ich nicht schon längst all den Qualen, all dem Hohn ? Weshalb warte ich, im Besitz einer Waffe, auf den Tod ?« Dies Schauspiel war desto großartiger, je größer die Ehre der Menschen ist, die sterben statt töten lernen.

Also, das bißchen Mut, das Menschen der verkommensten und gefährlichsten Kaste aufbringen, sollten Leute nicht haben, die langes Nachdenken und die Vernunft, die Lehrmeisterin aller Dinge, für solche Vorkommnisse gerüstet hat ? Sie lehrt uns, daß der Zugang zum Tode verschieden sein kann, das Ziel aber immer das gleiche ist, und daß es gar nichts ausmacht, wann eintritt, was kommen muß. Die gleiche Vernunft rät uns auch, womöglich nach eigener Wahl zu sterben, andernfalls jedes sich darbietende Mittel zu ergreifen, um uns Gewalt anzutun. Es ist Unrecht, durch Raub zu leben — aber durch ›Raub‹ zu sterben, das ist das Schönste, was es gibt.“

 

I.3 David Hume, on suicid, 1757

 

„Es ist gottlos, sagt der alte römische Aberglaube, Ströme aus ihrem Lauf abzulenken und in die Rechte der Natur einzugreifen. Es ist gottlos, sagt der französische Aberglaube, die Pocken einzuimpfen und das Geschäft der Vorsehung sich anzumaßen durch absichtliche Hervorbringung von Krankheiten. Es ist gottlos, sagt der moderne europäische Aberglaube, dem eigenen Leben eine Grenze zu setzen und dadurch gegen den Schöpfer sich aufzulehnen. Und warum, frage ich, ist es nicht gottlos, ein Haus zu bauen, das Feld zu bestellen, den Ozean zu befahren? In allen diesen Handlungen wenden wir unsere geistigen und körperlichen Kräfte an, um in dem Lauf der Natur eine Veränderung hervorzubringen; und etwas anderes tun wir auch dort nicht. Sie sind deshalb alle gleich unschuldig oder gleich verbrecherisch."

….." Es gibt kein Wesen, das ein Vermögen oder eine Kraft besitzt, welche es nicht von seinem Schöpfer empfangen hat; noch gibt es eines, welches durch eine noch so sehr von der Regel abweichende Handlung in den Plan der Vorsehung eingreifen oder den Weltlauf in Unordnung bringen kann. Seine Wirkungen sind ihr Werk ebenso wie die Kette von Ereignissen, welche sie durchkreuzen; und welches Prinzip immer überwiegt, wir dürfen eben hieraus schließen, dass es von der Vorsehung begünstigt ist."

Es ist eine Art von Gotteslästerung, sich einzubilden, daß ein geschaffenes Wesen die Ordnung der Welt stören oder das Geschäft der Vorsehung sich anmaßen kann. Es setzt voraus, daß dieses Wesen Kräfte und Fähigkeiten besitzt, welche es nicht von dem Schöpfer empfing und welche seiner Herrschaft und Gewalt nicht Untertan sind. Ein Mann kann ohne Zweifel die Gesellschaft stören und dadurch das Mißfallen des Allmächtigen auf sich laden; aber die Regierung der Welt ist weit über den Bereich seiner Eingriffe erhaben. Und wie wird es sichtbar, daß der Allmächtige mit jenen Handlungen, welche die Gesellschaft stören, unzufrieden ist? Durch die Grundsätze, welche er der menschlichen Natur eingepflanzt hat und welche uns mit einem Gefühl der Reue erfüllen, wenn wir uns selbst solcher Handlungen schuldig gemacht haben, und mit einem Gefühl der Mißbilligung und des Tadels, wenn wir sie an anderen wahrnehmen. - Wir wollen nun, unserem vorgesetzten Gedankengang folgend, untersuchen, ob Selbstmord zu dieser Art von Handlungen gehört und ein Bruch unserer Pflicht gegen den Nächsten oder die Gesellschaft ist.

Ein Mensch, welcher sich aus dem Leben zurückzieht, fügt der Gesellschaft kein Leid zu; er hört bloß auf, ihr Gutes zu tun, was, wenn es ein Unrecht ist, ein Unrecht von der geringsten Art ist. - Alle unsere Verpflichtungen, der Gesellschaft Gutes zu tun, scheinen eine Art von Gegenseitigkeit einzuschließen. Ich empfange die Wohltaten der Gesellschaft und daher bin ich verpflichtet, ihre Interessen zu fördern; wenn ich mich aber aus der Gesellschaft überhaupt entferne, bin ich dann noch gebunden? Doch zugestanden, daß unsere Verpflichtung Gutes zu tun, beständig dauerte, so hat sie doch Grenzen: ich bin nicht verpflichtet, der Gesellschaft ein geringfügiges Gutes zu tun auf Kosten eines großen Schmerzes meinerseits: weshalb sollte ich also wegen eines nichtigen Nutzens, den die Gesellschaft vielleicht von mir erlangen möchte, ein elendes Dasein verlängern? Wenn ich auf Grund von Alter und Krankheit einen Beruf aufgeben und meine ganze Zeit darauf verwenden darf, mich gegen diese unglücklichen Umstände zu schützen und so viel als möglich das Elend meines künftigen Lebens zu erleichtern, warum darf ich nicht durch eine Handlung, welche für die Gesellschaft nicht nachteiliger ist, auf einmal all dieses Elend abschneiden? - Aber man setze den Fall, daß es nicht mehr in meiner Macht steht, das Interesse der Gesellschaft zu fördern, daß ich ihr eine Last bin, daß mein Leben eine andere Person verhindert, der Gesellschaft viel mehr zu nützen: in solchem Fall muß mein Verzicht auf das Leben nicht bloß schuldlos, sondern löblich sein. Und die meisten Menschen, welche in die Versuchung kommen, das Dasein zu verlassen, sind in solcher Lage; diejenigen, welche Gesundheit und Kraft und Ansehen haben, neigen gewöhnlich zur Zufriedenheit mit der Welt.

Es ist jemand an einer Verschwörung für das öffentliche Wohl beteiligt, wird auf Verdacht ergriffen, mit der Folter bedroht; er kennt seine Schwäche und weiß, daß das Geheimnis von ihm erpreßt werden wird: könnte ein solcher für das öffentliche Wohl besser sorgen als durch schleuniges Beenden eines elenden Lebens? Dies war der Fall des berühmten und tapferen Strozzi von Florenz. - Oder man setze den Fall, daß ein Verbrecher mit Recht zu einem schmachvollen Tode verurteilt ist, läßt sich irgendein Grund finden, weshalb er nicht seine Bestrafung vorwegnehmen und sich all der Angst des Denkens an ihr gräßliches Nahen entziehen soll? Er greift in das Geschäft der Vorsehung nicht mehr ein als der Magistrat, der seine Hinrichtung befahl, und sein freiwilliger Tod ist der Gesellschaft durch Befreiung von einem verderblichen Mitglied gleich nützlich.

Daß Selbstmord oft mit dem Interesse und mit der Pflicht gegen uns selbst verträglich ist, kann niemand bezweifeln, der zugibt, daß Alter, Krankheit oder Unglück das Leben zu einer Last und selbst schlimmer als seine Vernichtung machen können. Ich glaube, daß noch niemand ein Leben wegwarf, das zu erhalten der Mühe wert war. Denn unsere natürliche Furcht vor dem Tode ist so groß, daß kleine Beweggründe nie imstande sein werden uns mit ihm auszusöhnen; und wenn vielleicht jemandes Gesundheits- oder Glücksumstände dieses Mittel nicht zu erfordern scheinen, so dürfen wir wenigstens dessen sicher sein, daß derjenige, der ohne augenscheinlichen Grund es anwendete, an so unheilbarer Verkehrtheit oder Düsterheit des Temperaments litt, daß dieselbe alle Lust vergiftete und ihn ebenso elend machte, als wenn er mit dem schwersten Mißgeschick beladen gewesen wäre. Wenn Selbstmord ein Verbrechen ist, so ist es Feigheit allein, die uns dazu antreiben kann. Wenn er kein Verbrechen ist, so sollten sowohl Einsicht als Tapferkeit uns anhalten, uns auf einmal von dem Dasein zu befreien, wenn es eine Last wird. Dies ist dann der einzige Weg, auf welchem wir der Gesellschaft nützlich sein können, indem wir ein Beispiel geben, dessen Nachahmung jedermann seine Chance für glückliches Leben erhält und ihn von Gefahr und Elend wirksam befreit.

Es würde sich leicht beweisen lassen, daß Selbstmord für Christen ebenso rechtmäßig ist als für die Heiden. Es gibt nicht ein einziges Schriftwort, das ihn verbietet. Diese große und unfehlbare Richtschnur des Glaubens und Lebens, an welcher alle Philosophie und menschliche Überlegung zu prüfen ist, hat uns in diesem Punkte unsere natürliche Freiheit gelassen. Ergebung gegen die Vorsehung wird allerdings in der Schrift empfohlen; aber diese befallt allein Unterwerfung unter diejenigen Übel, welche unvermeidlich sind, nicht unter die, welchen durch Klugheit oder Tapferkeit abgeholfen werden kann. »Du sollst nicht töten«, hat offenbar den Sinn, das Töten anderer, über deren Leben uns kein Recht zusteht, auszuschließen. Daß diese Vorschrift, wie die meisten Schriftstellen, durch Überlegung und gesunden Menschenverstand modifiziert werden muß, geht aus dem Verfahren der Obrigkeiten klar hervor, welche Verbrechen am Leben strafen, trotz des Buchstabens des Gesetzes. Aber ginge dies Verbot auch ganz ausdrücklich auf Selbstmord, so würde es jetzt doch keine Geltung haben, denn das Gesetz Mosis ist abgeschafft, soweit es nicht durch das Gesetz der Natur aufrecht erhalten wird. Und wir haben schon zu beweisen versucht, daß Selbstmord nicht gegen dies Gesetz ist. In allen Fällen sind Christen und Heiden genau auf demselben Fuß, Cato und Brutus, Arria und Porcia handelten heldenmütig; diejenigen, welche ihr Beispiel heute nachahmen, verdienen bei der Nachwelt dasselbe Lob. Die Macht, einen Selbstmord zu begehen, wird von Plinius als ein Vorzug angesehen, welchen der Mensch vor der Gottheit selbst hat. Deus non sibi potest mortem consciscere si velit, quod homini dedit optimum in tantis vitae poenis. (Gott kann sich, auch wenn er wollte, nicht den Tod geben, was er den Menschen als bestes Geschenk bei so vielen und großen Plagen des Lebens verlieh.)“

 

I.4 Friedrich Wilhelm Nietzsche

 

a) Zarathustra 1. Teil (1882) „Vom freien Tode"

 

Im ersten Teil des Zarathustra, entstanden in Nietzsches größter Not und psychischer Bedrängnis nach der Trennung von Lou, in der er bekannte, dass er das Leben nur noch schaffend ertragen zu können, beschäftigte er sich in der Rede „Vom freien Tode" mit dem Zeitpunkt und der Art des Todes. Er dürfte in dieser Zeit seiner größten Einsamkeit dem tatsächlich freien Tod wohl sehr nahe gewesen sein.

„Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: stirb zur rechten Zeit!"

Stirb zur rechten Zeit; also lehrt es Zarathustra. Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben? Möchte er doch nie geboren sein!"

Hinsichtlich der Ausgestaltung des Todes führt Zarathustra fort:

„Wichtig nehmen alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste weiht"

Nietzsche deutet also an, dem bevorstehenden Tod könne der Betroffene durchaus ein Fest weihen.

Die Erwähnung der rechten Zeit für den Tod erinnert an Kairos, die Lehre der Stoiker vom rechten Zeitpunkt. In den weiteren Ausführungen nimmt Zarathustra vorweg, was Nietzsche dann in seinem im Jahre 1889 veröffentlichen Spätwerk Götzen-Dämmerung „Streifzüge eines Unzeitgemäßen" ausformuliert. Nietzsche sieht es als Feiglingstod, wenn man bewusst in eine Situation kommt, die einen Tod unter den verächtlichsten Bedingungen zeitigt. Er widerspricht Aristoteles letztlich in vollem Umfange, der in der Nikomachischen Ethik den Freitod aus Schmerzgründen als feige bezeichnete. Nietzsche überrascht, insofern er den aus freien Stücken gewählten Tod, zelebriert in einer Art lustiger Familienfeier, bevorzugt.

Nietzsche sieht es offenbar als Tugend an, sich zu suizidieren, sobald man der Mitwelt eine schwer erträgliche Last zu werden droht. Er formuliert dies so:

„Wenn man sich abschafft, thut man die achtungswürdigste Sache, die es giebt: man verdient beinahe damit, zu leben ... Die Gesellschaft, was sage ich! das Leben selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgend welches „Leben" in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend —, man hat die Andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem Einwand befreit".

Damit verfolgt er die gleiche Richtung wie David Hume, on suicid, 1757. Hume meinte dazu: „Aber man setze den Fall, daß es nicht mehr in meiner Macht steht, das Interesse der Gesellschaft zu fördern, daß ich ihr eine Last bin, daß mein Leben eine andere Person verhindert, der Gesellschaft viel mehr zu nützen: in solchem Fall muß mein Verzicht auf das Leben nicht bloß schuldlos, sondern löblich sein" Nietzsche kommt meines Erachtens zu dieser Auffassung nicht leichtfertig, so er doch diejenigen verdammt, die behaupten, das Leben sei nur Leiden, nachlesbar in „Also sprach Zarathustra" in der Rede von den Predigern des Todes.

 

b) Götzen-Dämmerung im Kapitel „Streifzüge eines Unzeitgemäßen" unter Nr. 36 (Moral für Ärzte)

 

Hier erklärt nun Nietzsche sieben Jahre später, in Zarathustra angedeutet, wie man den Tod als Fest ausrichtet. Diesem Art des Freitods gewährt Nietzsche damit eine epikurische heitere Freude mit der Gefahr der Steigerung in hedonistische Dimensionen.

„Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summirung des Lebens — Alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christenthum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem Christenthume nie vergessen, dass es die Schwäche des Sterbenden zu Gewissens-Nothzucht, dass es die Art des Todes selbst zu Werth-Urtheilen über Mensch und Vergangenheit gemissbraucht hat! — Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurtheils zum Trotz, vor Allem die richtige, das heisst physiologische Würdigung des sogenannten natürlichen Todes herzustellen: der zuletzt auch nur ein „unnatürlicher," ein Selbstmord ist. Man geht nie durch jemand Anderes zu Grunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur unrechten Zeit, ein Feiglings Tod. Man sollte, aus Liebe zum Leben —, den Tod anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall ... Endlich ein Rath für die Herrn Pessimisten und andere décadents. Wir haben es nicht in der Hand, zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler — denn bisweilen ist es ein Fehler — wieder gut machen. Wenn man sich abschafft, thut man die achtungswürdigste Sache, die es giebt: man verdient beinahe damit, zu leben ... Die Gesellschaft, was sage ich! das Leben selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgend welches „Leben" in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend —, man hat die Andern von seinem Anblick befreit „

 

II Contra ethischer Erlaubtheit des Freitods

1. Platon, Phaidon, Hauptgespräch Punkt 6

 

In der Einleitung des Hauptgesprächs (Kapitel 3 bis 14) empfiehlt Sokrates, dem Sophisten Euenos aufzufordern, im möglichst bald im Tode zu folgen, da er ja wohl auch ein wahrer Philosoph sei, denn ein Philosoph sehne sich nach dem Tode. Das soll durchaus keine Empfehlung des Selbstmordes sein, wofür es Simmias hält. Vielmehr erklärt Sokrates diesen als unzulässig; denn der von den Göttern abhängige Mensch dürfe nicht über sich verfügen, sondern müsse warten, bis ihm die Götter den Tod schicken. Trotzdem bleibe der Satz in Geltung, dass sich der Philosoph nach dem Tode sehnt. Diese Sehnsucht ist durchaus nicht etwas Unvernünftiges, da es das höchste Ziel des Philosophen sein müsse, seine Seele unabhängig vom Körper zu machen, da ihn die Beschwernisse der sinnlichen Wahrnehmung nur vom Ziel der Gewinnung der Erkenntnis abhalten.

Hauptgespräch 6:

„Kebes. Weshalb soll es wohl nicht recht sein, sich selbst zu töten, mein Sokrates? Wonach du nämlich eben fragtest, habe ich auch von Philolaos gehört, als er sich bei uns aufhielt, aund auch schon von anderen, dass man das nicht tun dürfe. Etwas Genaues darüber habe ich jedoch noch nie von jemandem gehört.

Sokrates. So musst Du Dich weiter bemühen; du kannst es ja wohl noch hören. Vielleicht aber wird es dir auch wunderbar vorkommen, dass dies allein von allem schlechthin so sein soll und dass es sich für den Menschen nie, wie doch bei den anderen Dingen sonst, fügen soll, dass es bisweilen und für einige besser ist zu sterben als zu leben. Was aber die anbelangt, für die es besser wäre zu sterben, so scheint es dir wohl wunderbar, wenn es diesen Menschen nicht erlaubt sein soll, sich selbst die Wohltat zu erweisen, sondern wenn sie auf einen anderen Wohltäter warten sollen. Mit einem leisen Lächeln sagte da Kebes in seiner heimischen Mundart: Weet Gott!

Freilich sagte Sokrates, so auf den ersten Blick mag es vielleicht widersinnig erscheinen; aber es hat doch auch wieder seinen guten Grund. Was nun in den Geheimlehren darüber gesagt wird, dass wir Menschen uns in einer Art Kerker befinden, aus dem man sich nicht selbst befreien oder entweichen dürfe, erscheint mir als gewichtig und gar nicht leicht zu verstehen. Dagegen halte ich, mein Kebes, das für einen trefflichen Ausspruch, dass die Götter uns in ihrer obhut habe und dass wir Menschen ein Teil ihres Eigentums sind. Oder dünkt es dich nicht so?

Ganz gewiss, antwortete Kebes.

Also auch Du, sagte Sokrates, würdest, wenn einer deiner Sklaven sich selbst tötete, ohne dass du angedeutest hättest, du wünschtest seinen Tod, diesem zürnen und ihn bestrafen, wenn du noch könntest?

Ganz gewiss, sagte Kebes.

Sokrates. Insofern also wäre es doch wohl nicht unvernünftig, dass man sich selbst nicht eher töten dürfe, als bis der Gott irgendeine Notwendigkeit dazu verhängt, wie jetzt bei mir“.

 

II.2 Aristoteles, Nikomachische Ethik

 

a) Buch 3 Kapitel 1 (1110a-1110b)

 

„Zu einigen Dingen soll man sich vielleicht überhaupt nicht zwingen lassen, sondern eher sterben und das Schlimmste erdulden.“

 

b) Buch 3 Kapitel 11(1115b-1116a)

 

 „Wie gesagt also, der Mut ist Mitte in Bezug auf solches, was bei den bezeichneten Gefahren Zuversicht und Furcht einflößt; er wählt und duldet, weil es so sittlich gut und das Gegenteil schlecht ist.

Wenn man aber stirbt, um der Armut oder einer unglücklichen Liebe oder einem Schmerze zu entgehen, so verrät das nicht den mutigen, sondern den feigen Mann. Es ist Weichlichkeit, die Widerwärtigkeiten zu fliehen, und man erleidet in dem gedachten Falle den Tod nicht aus einem sittlichen Beweggrunde, sondern bloß um einem Übel zu entrinnen."

 

c) Buch 5 Kapitel 15 (1137b-1138a)

 

„Aus dem Gesagten ergibt sich auch, ob man sich selbst Unrecht tun kann oder nicht. Gerecht in dem einen Sinne ist, was das Gesetz hinsichtlich jeder einzelnen Tugend anordnet. So gebietet das Gesetz nicht, sich selbst zu töten;  was es aber nicht gebietet, das verbietet es. Ferner, wenn man jemand gegen das Gesetz schädigt, freiwillig (und ohne damit Schaden zu vergelten), so tut man Unrecht. Freiwillig ist ein Handeln, das weiß, gegen wen und womit. Wer sich nun im Zorn selbst umbringt, tut freiwillig gegen die rechte Einsicht, was das Gesetz nicht gestattet. er begeht also ein Unrecht. Aber gegen wen? Etwa gegen den Staat und nicht gegen sich selbst? Denn er leidet ja freiwillig, und niemand leidet freiwillig ein Unrecht. Darum straft ihn auch der Staat, und es hängt über dem, der sich selbst tötet, eine Ehrlosigkeit als auf einem Menschen, der sich gegen den Staat vergangen hat.“