Rudi Kölmel, 13.06.2016, in der Fassung  vom 18.12.2016

 

Die Moral

 

1. Der Moralbegriff und seine Assoziation

 

Mit der Frage an einen Mitmenschen, ob er denn die Moral und die Ethik für gut halte, beantwortete er mir dies mit ja. Ein Hinterfragen erbrachte das für mich nicht verwunderliche Ergebnis, dass er die Begriffe überhaupt nicht erklären konnte.

 

Im täglichen Leben stößt man oft auf die Formulierungen „dies ist nicht moralisch“ oder „das gehört sich nicht“ Die meisten, die dies im Sprachgebrauch so verwenden, wissen aber gar nicht, was es damit auf sich hat. Gleichwohl haben sie das Gefühl, dass gerade ihre eigene Auffassung richtig und gut ist.

 

Ebenso meint die große Herde, dass sie gerade mit der von ihr vertretenen Moral oder Sitte eine Wahrheit besitzt.

Der Mensch braucht anscheinend Wahrheiten, denn sie vermitteln ihm Sicherheit.

Dies ist jedoch nicht nur trügerisch, sondern auch tragisch. Gerade wegen der vermeintlichen Verteidigung irgendwelcher abstrusen, durch fragwürdige Moralideen untermauerte Wahrheiten, wurden die meisten Kriege geführt.

 

Dies ist ein Beispiel, wie Begriffe besetzt werden, oft gibt es nur die Wahl im Sinne des manichäischen Gut-Böse Dualismus.

 

So wie für das Kind süß auch gut bedeutet, wird in der Moral etwas Gutes und in der Unmoral etwas Schlechtes gesehen.

 

Was ist aber indes das Wesen der Moral?

 

Kann man sie mit Vernunft, dem Nachdenken erschließen?

 

Ist die Moral ein Ziel oder ephemer, also flüchtig, kurzlebig?

 

2. Dissoi Logoi, Moral, wie sie vor 2400 Jahren gesehen wurde

 

Nach längerer Zeit habe ich am 18.12.2016 das Buch (Philsophisches Lesebuch, Von den Vorsokratikern bis heute, Reclam 18496, 2007), in dem der kurze Text der Dissoi Logoi  steht, wiedergefunden.

 

Ja, einfach wunderbar, er erklärt mir am besten, was es mit der Moral auf sich hat, die die verschiedenen Gesellschaften und Völker für eine bestimmte Zeit als Gallionsfigur vor sich hergetragen haben.

 

Es sind tausende von Jahren vergangen, seitdem der unbekannte Sophist in vorsokratischer Zeit die heutige Moral bzw. Unmoral durch sein damaliges Begriffspaar schicklich und unschicklich bzw. schimpflich beschrieben hat.

Ich werde mir deshalb die Mühe machen, den Volltext in dieses Dokument einzubringen. Ich finde nach dem Lesen der Dissoi Logoi nur noch ein entspanntes Lächeln, wenn sie sich mal wieder präsentieren, die Verkünder ihrer kurzweiligen Wahrheiten.

 

Text:

 

„Ich komme nun zu dem, was die Städte und Völker für schimpflich erachten. So ist es bei den Spartanern schicklich wenn die Mädchen nackt Sport treiben und mit unbedeckten Armen und ohne Unterrock daherkommen, bei den Ioniern schimpflicj. Und wenn die Knaben nicht die musischen Künste und nicht lesen und schreiben lernen, ist das bei den Spartanern schicklich, bei den Ioniern aber ist es schimpflich, von all diesen Dingen nichts zu verstehen.

Bei den Thessaliern ist es schicklich, die Pferde und die Maultiere aus der Herde zu fangen und sie selbst zuzureiten, ebenso ein Rind zu fange und es selbst zu schlachten, abzuhäuten und in Stücke zu hauen, in Sizilien aber ist dies schimpflich und die Arbeit von Knechten.

Bei den Makedoniern gilt es als schicklich, wenn die Mädchen sich vor der Heirat verlieben und mit einem Mann verkehren, nach der Heirat aber als schimpflich; für die Hellenen aber ist beides schimpflich.

Bei den Thrakern ist es ein Zierde, wenn die Mädchen sich tätowieren, bei den anderen Völkern sind Tätowierungen eine Strafe für Verbrecher.

Die Skythen halten es für schicklich, dass einer, wenn er einen Mann niedergemacht hat, ihm den Kopf abhäutet und seinen Skalp vor dem Pferd herträgt, den Schädel aber vergoldet, um daraus zu trinken und den Göttern zu opfern; bei den Hellenen aber wollte man nicht dasselbe Haus betreten mit einem, der solches getan hat.

Die Massageten hauen ihre Eltern in Stücke und verzehren sie, und als schönstes Grabstätte gilt es Ihnen; in ihren Kindern begraben zu sein; täte dies aber einer in Hellas, so würde er aus Hellas fortgetrieben und einen schlimmen Tod erleiden für eine so ungeheuerliche Schandtat.

Die Perser wiederum halten es für schicklich, wenn sich die Männer schmücken wie die Frauen und wenn sie mit ihren Töchtern, Mütter oder Schwestern verkehren; die Hellenen aber halten dies für schimpflich und gesetzeswidrig. Die Lyder dünken es schicklich, wenn die Mädchen sich feilbieten und damit Geld verdienen und sich dann erst in die Ehe begeben, bei den Hellenen aber wollte niemand (ein solches Mädchen) heiratn.  Auch die Ägypter halten auch nicht dieselben Dinge für schicklich wie die anderen Völker; hierzulande ist es nämlich schicklich, wenn die Frauen weben und Handarbeit verrichten, dort jedoch wenn dies die Männer tun und die Frauen die Dinge treiben, die hierzulande Männerache sind.

Den Lehm mit den Händen, das Mehl mit den Füßen zu kneten, ist für jene dort nicht schicklich, für uns aber das Gegenteil.

 

Ich glaube, wenn man allen Menschen befehlen würde, die Dinge, die sie jeweils für schimpflich halten, an einer Stelle zusammenbringen und von denen dort aufgehäuften Dingen wiederum die wegzunehmen, die sie jeweils als schicklich betrachten, so würde nichts übrig bleiben, sondern alle würden alles untereinander aufteilen.

 

Denn nicht alle hegen dieselben Ansichten. Ich habe hierzu noch ein Dichterwort zu zitieren:

 

< Mit Hilfe dieser Unterscheidung wirst du das andere Gesetz für die Sterblichen erkennen: Nichts ist allenthalben schicklich, nichts schimpflich, sondern Ort und Zeit machen dieselben Dinge in launischem Wandel schimpflich und wieder schicklich.>

 

Um es pauschal zu sagen, alles ist zu rechten Zeit schicklich, zur Unzeit aber schimpflich. Was habe ich also zustande gebracht?

Ich versprach zu beweisen, dass dieselben Dingen schimpflich und schicklich sind, und habe es an all diesen Dingen bewiesen.

 

3.  Moral, wie ich sie sehe

 

 

 

Bis auf weiteres habe ich 3 Sätze dazu geschrieben.

 

Die Moral ist ein oberstes Prinzip, die sich eine Gesellschaft für die Regelung des sozio-kulturellen Zusammenlebens gibt.

 

Die Moral als Handlungsanleitung ist nicht genuin-apriorisch, also nicht dem Menschen von vornherein beigegeben, sondern beschreibt die faktisch entstandene Wunschvorstellung einer bestimmten Gesellschaft, wie sich der einzelne Mensch darin verhalten soll.

 

Die Moral ist die Summe der durch Einübung des tradierten Übermittlungs- bzw. Prägewissens des sozialen Umfeldes entstandenen deskriptiv-empirischen Handlungsweisen und damit nur a-posteriori Wissen, also Erfahrungswissen.

 

Es erscheint mir in der Fortführung der Gedanken von "Dissoi Logoi" hinlänglich klar, dass eine bestimmte Moral nicht von vornherein als eine Art Ursprungsmoral dem Menschen  sozusagen a priori, also von vornherein, beigegeben ist.

 

Mir ist verinnerlicht, dass die Moral -ich gebrauche den Ausdruck bewusst- nur eine gesellschaftliche a-posteriori Determinante ist.

 

Die Moral hat also keine eigene Authentizität, kraft derer sie sich selbst offenbaren kann. Übrigens die Religion kann dies auch nicht.

 

Da alles fließt, haftet der Moral zu jedem Zeitpunkt bereits der Geruch von Verfallsmomenten an und so ist es auch. Die Verfallsmomente keimen, bilden sich aus und im langen Zeithorizont wetterleuchten schon die Begriffe „Beliebigkeit und Wandel“.

 

Der Wandel hängt also von der Ausprägung der Trägheitsmomente ab. Moralen (Plural) können über längere Zeiträume in fast unveränderter Form bestehen und die Änderungen sind kaum merkbar. Im langen Betrachtungshorizont, der generationenübergreifenden Sichtweise erscheinen die Änderungen  dann möglicherweise aber bereits epochal.

 

Nehmen wir mal 3 lebensbezügliche Beispiele:

 

Bis in die fünfziger Jahre wurde eine Frau mit einem unehelichen Kind als unmoralisch bezeichnet. Frauen, welche die ersten Miniröcke anzogen, wurden auch als unmoralisch bezeichnet. Ebenfalls wurde in Deutschland das Zusammenleben junger Paare ohne Trauschein bis Anfang der sechziger Jahre als unsittlich und unmoralisch angesehen.

 

Trotz Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ entstand in der damaligen Zeit die Assoziation „Abweichung von der herrschenden Moral = schlecht“

Der homo stultus war in eine Falle getappt, denn die Moral ist weder gut noch böse.

Nietzsche hat Moral und die Sittlichkeit in Nr. 9 - Begriff der Sittlichkeit der Sitte- seines Werkes „Morgenröte“ beschrieben.

 

 Darin brachte er zum Ausdruck, dass die Gesellschaft mit Moralverstößen nicht gnädig umgeht. Die herrschende Moral oder Sitte fühlte sich durch jede Individualität bedroht und in der Folge des Aberglaubens wurden oft göttliche Strafen für einen „angeblichen Sittenverfall“ befürchtet.

 

 Die Moral erfüllte damit den Zweck eines Machtinstrumentes.

 

  „Überall, wo es eine Gemeinde und folglich eine Sittlichkeit der Sitte gibt, herrscht auch der Gedanke, dass die Strafe für die Verletzung der Sitte vor Allem auf die Gemeinde fällt: jene übernatürliche Strafe, deren Äußerung und Grenze so schwer zu begreifen ist und mit so abergläubischer Angst ergründet wird. Die Gemeinde kann den Einzelnen anhalten, dass er den nächsten Schaden, den seine Tat im Gefolge hatte, am Einzelnen oder an der Gemeinde wieder gut mache, sie kann auch eine Art Rache am Einzelnen dafür nehmen, dass durch ihn, als angebliche Nachwirkung seiner Tat, sich die göttlichen Wolken und Zorneswetter über der Gemeinde gesammelt haben, — aber sie empfindet die Schuld des Einzelnen doch vor Allem als ihre Schuld und trägt dessen Strafe als ihre Strafe — : die Sitten sind locker geworden, so klagt es in der Seele eines Jeden, "wenn solche Taten möglich sind". Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen, was gerade die seltneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, dass sie immer als die bösen und gefährlichen empfunden wurden, ja dass sie sich selber so empfanden. Unter der Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte hat die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter, als er sein müsste.“

 

 

Wie haben sich die oben genannten Beispiele weiterentwickelt?

 

Diese Frage ist ganz einfach zu beantworten, nämlich der schlichte Zeitablauf hat den Trägheitsmoment überwunden. Es entstand langsam ein geändertes Erfahrungswissen durch Schau der Realität, bis letztlich eine völlig neue Handlungsweise entstand.

 

In modernen aufgeklärten Gesellschaften lösen alle drei Beispiele in der Regel keinerlei „sittliche Anstößigkeiten“ mehr aus.

 

Was war passiert? Die Moral hatte sich geändert, sonst nichts. Dies gilt aber nicht überall. In Gesellschaften mit einer stark religiös-patriarchischen Ausrichtung werden die Beispiele immer noch als moralisch verwerflich angesehen.

 

4. Schlussfolgerung zur Moral

 

In einer hypothetischen Ausgangslage nehmen wir an, die Moral würde sich farblich ausdrücken lassen. Ein Weltraumastronaut richtet gerade das Sonnensegel der Sonde neu aus. In dem Moment des Öffnens der Raumschiffluke sieht er den runden blauen Ball. Aus diesem Blickwinkel assoziiert sich terra wohl als rund, blau, schön, als Einheit jedenfalls. Je weiter sich aber der Blick fokussiert, desto mehr vereinzeln sich Subjekte und Objekte.

Der kleine Mensch verliert sich in den -versinnbildlicht ausgedrückt- verschiedenfarbigen Ethik- und Moralvorstellungen der vielen Kulturbereiche auf der Erde.

 

In einem Teil der Welt sind die Hunde die besten Freunde der Menschen, woanders Nahrungsmittel. Eben diese Fokussierung offenbart punktgenau die bedingte Werthaltigkeit der jeweils herrschenden Ethik und Moral. Je nach Sichtweise kann sie alles oder auch nichts wert sein.

 

Eines erscheint aber klar zu sein, es gibt keine absolute Moral.

 

Sie ist, wo sie ist und sie ist wie sie ist und sie wandelt sich. Das ist alles, mehr nicht. Diejenigen, die eine vermeintlich aktuelle Ethik und Moral vertreten, werden - um in der aurelischen Denkweise zu schreiben- morgen hinausgetragen, wenig später werden die Träger hinausgetragen.

 

Im Ergebnis hätte ich mir die Überlegungen sparen können, ein Verweis auf den Verfasser der Dissoi Logoi hätte genügt. Ich hätte gerne mit ihm darüber gesprochen. Sollte mir eine Zeitmaschine zur Verfügung stehen, wäre er einer der ersten, die ich besuchen würde.

 

So tritt die Wandlung ein, bis auch die Moral zu den Vergessenen und Hinausgetragenen gehört und Platz macht für Kommendes.