Rudi Kölmel im März 2005 i.d.F. vom 20.10.2009

 

Nietzsche, Diagnostiker, Zerstörer, Prophet - Erwiderung einer Kritik

 

I.1 Allgemeines

 

Es entspricht dem allgemeinen Grundzug menschlicher Veranlagung, dass Dinge, die nassforsch und plakativ aus dem Zusammenhang gerissen, dem Volk mit entsprechender Verpackung -und oft genug wiederholt- als offensichtliche Wahrheit offeriert werden.

Immer wieder wird versucht, eine Meinung herbeizuführen bzw. eine an vermeintliche Wahrheit angrenzende Überzeugungsgewissheit auszulösen, Nietzsche sei gewaltverherrlichender Kriegstreiber, Menschenzüchter , Rassist, deutscher Übernationalist oder Gottesmörder gewesen.

 

Das Verständnis für Nietzsche erfordert indes einen Intelligenzquotienten, der doch deutlich über der durchschnittlichen Zimmertemperatur eines bundesdeutschen Schlafzimmers liegen sollte. Dieses Erfordernis ist aber in unserer heutigen Kulturlandschaft auch nicht leicht zu erfüllen, gelingt es den überall lauernden Vereinnahmungsmechanismen der Jetztzeit doch auch, den lullenden Herdenbürger zum Hecheln zu bringen, ihn davon abzuhalten, sich zu überdenken, zu überwinden, zu ändern oder loszulassen.

 

Wer also der Vorbeihastenden solle zum Wesentlichen vordringen, um zu erkennen, dass man Nietzsche nur im kontextlichen Begreifen des Gesamtzusammenhanges erfahren kann.

Denn wie bei vielen anderen Schriften, kann man aus isolierten Bruchstücken von Inhalten bei einigem Geschick genau das Gegenteil dessen herleiten, was eigentlich vom Verfasser intendiert ist.

 

Gerade diese Spezies der konstitutionellen Ereiferer üben sich als Folge ihrer Bequemlichkeit im Nachplappern der längst ausgelutschten Argumentationsgirlanden ihrer Vorgänger, immer auf der Suche nach billigem und heischendem Beifall, dies auf Kosten eines Mannes, der sich nicht mehr wehren kann, weil er tot ist.

 

Ich bin im großen Glücke, Originalliteratur zu besitzen, die genau dieses "Instrumentalisieren" zum Ziel hatte. So habe ich ein Buch des Kröner Verlags von 1941, welches die Überschrift "Nietzsche" hat und sich "Schwert des Geistes" nennt. Es enthält die Aussage, dass es sich um Worte für den deutschen Kämpfer und Soldaten handeln, ausgewählt von Joachim Schondorff (190 Seiten).

Darin enthalten sind Auszüge aus Antichrist, Fröhliche Wissenschaft, Jenseits von Gut und Böse, Götzendämmerung, Genealogie der Moral, Die Geburt der Tragödie, Morgenröte, Menschliches, Allzumenschliches, Unzeitgemäße Betrachtungen, Wille zur Macht, Also sprach Zarathustra. Vor allem sind Auszüge aus dem Nachlass enthalten, zum Teil gefälscht von Nietzsches Schwester.

Aus dem Zusammenhang gerissen, werden Auszüge in den Raum geworfen aus den Gebieten Geschichte, Kultur, Volk und Völker, Zeitgeist, Bildung, Leben, der Mensch, die Werte des Menschen, der Leib, Gut und Böse, Weib und Mann, Kind und Ehe, Züchtung (hier nur Nachlass), Erziehung, Größe, Schaffens-Wille.

Ferner habe ich vom Kröner Verlag eine Nietzsche Fassung „Jenseits von Gut und Böse" von 1930 im Nachdruck von 1940 (Nachwort Alfred Bäumler).Heute verlegt der Kröner Verlag das Gesamtwerk.

Eine Beschau beider Werke zeigt in sehr interessanter Weise, wie sich ein Verlag durch mehrere Gesellschaftssysteme hindurch aufrecht erhält, in dem seine mediale Aussenwirkung gezielt dem politischen Mainstream des jeweiligen Staatssystems angepasst wird.

 

Insgesamt wird klar, dass sich die Instrumentalisierungsmechanismen nie ändern. Nietzsche wurde -aus dem Zusammenhang gerissen- einerseits vereinnahmt und später von sogenannten Kritikern auf die gleiche Art und Weise herabgewürdigt. In völlig grotesker Art und Weise wurde oft nicht nur das Wort sprichwörtlich „im Munde herumgedreht", sondern das Geschriebene, für jedermann Nachlesbare, ins absolute Gegenteil verkehrt.

 

 

Ich habe es für mich wichtig angesehen, mir zu den wichtigsten Fragen der Kritik meine eigenen Gedanken zu machen. Diese Fragen umfassen folgende Bereiche:

 

Vorwurf an Nietzsche, er sei gewaltverherrlichender Nationalist und Kriegstreiber gewesen

Vorwurf an Nietzsche, er sei Antisemit gewesen

Vorwurf an Nietzsche, er habe mit dem Begriff des „Übermenschen" Züchtungsphantasien geschaffen

Vorwurf an Nietzsche, er befürwortete eine Trennung von Sklavenmenschen (Sklavenmoral) und Herrenmenschen (Herrenmoral)

Vorwurf an Nietzsche, er habe die Eugenik befürwortet

Vorwurf an Nietzsche, er sei frauenfeindlich

Vorwurf an Nietzsche, er sei der Mörder Gottes gewesen

 

II. Vorwurf an Nietzsche, er sei gewaltverherrlichender Nationalist und Kriegstreiber gewesen

 

Einer der Eckpunkte der Kritik an Nietzsche besteht darin, ihn als heroischen Bewahrer des Deutschtums hinzustellen, welches von Hoffmann von Fallersleben in der ersten Strophe des Liedes der Deutschen so schön beschrieben wird mit Deutschland, Deutschland über alles.

Tatsache ist: Nietzsche bezweckte gerade das Gegenteil.

Zusammenfassend bleibt vorwegzunehmen, dass Nietzsche eine eindeutige deutschfeindliche Auffassung vertrat, er spricht sich gegen Agitatoren aus, die die Dummheit (Hornviehelemente) des Volkes ausnutzen und mit seiner entschiedenen Haltung gegen den Nationalitätenwahnsinn und den deutschtümelnden Nationalismus richtet sich seine Prophetie auf den europäischen Gedanken, der sich Jahrzehnte später in der Europäischen Gemeinschaft von heute realisieren sollte.

 

II.1 In Nr. 2 und 475 aus Menschliches, Allzumenschliches (1878) offenbart er die Prophetie einer nicht mehr aufzuhaltenden Europäisierung und fordert auf, sich als Europäer zu bekennen

 

Insbesondere beschreibt er, dass es das Interesse der Herrschenden (Wenigen) sei, die die Völker (Vielen) in den Nationalismus hineintrieben, der für eine gewisse Zeit wegen der aus ihm entstehenden Feindseligkeiten eine Gegenströmung zu der nicht aufzuhaltenden Vermischung und Europäisierung sei. Diese „Gegenströmung" bezeichnete er dann 8 Jahre später als „Zwischenaktspolitik". Die Kulminationspunkte dieser Zwischenaktspolitik waren dann der Erste und der Zweite Weltkrieg. Er war sich also 1878 schon sicher, dass eines Tages gewaltige Feindseligkeiten mit dem Ergebnis der Europäisierung überwunden werden.

 

„475

Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen.- Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer,-diese Umstände bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss. Diesem Ziele wirkt jetzt bewusst oder unbewusst die Abschliessung der Nationen durch Erzeugung nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwärts, trotz jener zeitweiligen Gegenströmungen: dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker), wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Fürstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man diess einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten"

 

II.2) Im Achten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse (1886) über Völker und Vaterländer, welches überwiegend die Politik anspricht, wendet er sich gegen den Nationalitätenwahnsinn in einer bereits über die Satire hinausgehenden neuen Qualität

 

II.3) In Nr. 241 zeigt er sich als kommender Europäer und verballhornt das Nationalbewusstsein als altertümliche Gefühls-Überschwemmung und atavistischen Anfall von Vaterländerei und Schollenkleberei

 

„Wir "guten Europäer": auch wir haben Stunden, wo wir uns eine herzhafte Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen gestatten - ich gab eben eine Probe davon -, Stunden nationaler Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand anderer alterthümlicher Gefühls-Überschwemmungen. Schwerfälligere Geister, als wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt und in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen fertig werden, in halben Jahren die Einen, in halben Menschenleben die Anderen, je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ihre "Stoffe wechseln". Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken, welche auch in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig hätten, um solche atavistische Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen zum "guten Europäerthum" zurückzukehren."

 

II.4) In Nr. 242 warnt er davor, dass der Nationalismus Ausnahmemenschen der gefährlichsten Art den Ursprung gibt

 

"der jetzt noch wütende Sturm und Drang des „National-Gefühls" gehört hierher: dieser Prozess läuft wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven Beförderer und Lobredner, die Apostel der „modernen Ideen", am wenigsten rechnen möchten. Dieselben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmäßigung des Menschen sich herausbilden wird -ein nützliches, arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Herdentier Mensch-, sind im höchsten Grade dazu angetan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben."

 

Im Anschluss daran kritisiert er die sogenannte deutsche „Bildungstiefe" in allen Schattierungen. Sehr ausführlich untersucht der die „Verflachung des deutschen Geistes" dann in dem ein Jahr später 1889 erschienenen Werk Götzen-Dämmerung in Kapitel „Was den Deutschen abgeht"

 

Wenige Jahre nach der Vollendung des Werkes, dies war 1888, wurde die Büchse der Pandora geöffnet und Knäblein an verschiedensten Ecken der Welt wurden geboren, die zunächst nur eine Aufgabe erfüllten, zu allererst der ganze Stolz der Eltern zu sein, mit der Zeit aber dann zu den vorherprophezeiten gefährlichsten Ausnahme-Menschen heranzuwachsen.

In diesem Zusammenhang und seinem Schmerz zur Prophetie sei ein am 14 April 1887 in Cannobio, Villa Badia an Franz Overbeck geschriebener Brief (Nachlaß) erwähnt:

 

„Lieber Freund,
....Diesen Winter habe ich mich reichlich in der europäischen Litteratur umgesehn, um jetzt sagen zu können, daß meine philosophische Stellung bei weitem die unabhängigste ist, so sehr ich mich auch als Erbe von mehreren Jahrtausenden fühle: das gegenwärtige Europa hat noch keine Ahnung davon, um welche furchtbaren Entscheidungen mein ganzes Wesen sich dreht, und an welches Rad von Problemen ich gebunden bin—und daß mit mir eine Katastrophe sich vorbereitet, deren Namen ich weiß, aber nicht aussprechen werde."

 

Ich denke, Nietzsches Ahnungen hingen nicht unwesentlich mit der deutschen Reichsgründung zusammen, die er öfters anprangerte und nicht für gut hieß, zum großen Teil aber auch mit den Ergebnissen seiner Beobachtungen der kleinen Menschen, ihrer Hingabe, sich dem Willen der Macht zu beugen. Mit diesem „erzeugten" Hurra zogen die Abgänger der höheren Lehranstalten dann 1914 in den Krieg. Er spürte instinktiv, dass im Nachgesang des weltweiten Nationalismus und der neuen Qualität der Militarisierung Ungemach am Horizont aufzuziehen begann.

 

II.5 ) Nr. 256 von „Jenseits von Gut und Böse" zeigt eindeutig auf, dass er auch in seinen Spätwerken den europäischen Gedanken weitergeführt hat

 

„Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker Europa's gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute mit seiner Hülfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die auseinanderlösende Politik, welche sie treiben, nothwendig nur Zwischenakts-Politik sein kann, - Dank Alledem und manchem heute ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, dass Europa Eins werden will."

 

Lesen wir es nochmals langsam und bedacht, er sah, dass Europa „Eins werden will". Alle willkürlichen und lügenhaften Störmanöver, aus denen jedoch durchaus noch „Unaussprechbares" folgen könne, betrachtete er dennoch nur als sogenannte Zwischenakts-Politik.

Das „Unaussprechbare" sollte sich als die Stahlgewitter zweier bevorstehender Weltkriege erweisen, der Wille jedoch in der Jetztzeit zur Europäischen Gemeinschaft führen. Für mich faszinierend ist es, dass er sich vom Europagedanken trotz der widrigen Gestimmtheit des damaligen nationalen Überschwangs angesichts der Reichsgründung in keinem Augenblick beirren ließ.

 

II.6 In der dritten Abhandlung von Genealogie der Moral, dem allegro furioso zu Jenseits von Gut und Böse führt er zum Thema "was bedeuten asketische Ideale" unter Nummer 26 auf, was er nicht mag, darunter Agitatoren, Antisemiten und auch ein Deutschland, Deutschland über alles:

 

ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen (dass jede Art Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne Erfolg bleibt, hängt mit der nachgerade unableugbaren und bereits handgreiflichen Verödung des deutschen Geistes zusammen, deren Ursache ich in einer allzu ausschliesslichen Ernährung mit Zeitungen, Politik, Bier und Wagnerischer Musik suche, hinzugerechnet, was die Voraussetzung für diese Diät abgibt: einmal die nationale Einklemmung und Eitelkeit, das starke, aber enge Prinzip "Deutschland, Deutschland über Alles" sodann aber die Paralysis agitans der "modernen Ideen").

In Götzen-Dämmerung in Kapitel „Was den Deutschen abgeht" Nr. 1 stellt er sogar die Befürchtung auf, dass das Deutschland über alles das Ende der deutschen Philosophie sei.

 

II.7 In Genealogie der Moral und in der 3. Unzeitgemäßen Betrachtung bereits angedeutet, fällt Nietzsche in Ecce homo (1889) sein übel ausfallendes Urteil über die Deutschen

 

Ecce homo ist sein autobiographisch abgefasstes Spätwerk, an dem er bis kurz vor seinem Zusammenbruch noch im Januar 1889 arbeitete, es wurde erst 1908 veröffentlicht. Es lässt vielfach auf den bevorstehenden Zusammenbruch schließen. Damit meine ich nicht nur den Teil, in dem er sich selbst beglückwünscht, so gute Bücher zu schreiben, sondern auch die unfeine Art, wie er Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel, Schleiermacher, Kant und Leibnitz als unbewusste Falschmünzer bezeichnet. Darum geht es aber bei dieser Betrachtung nicht. Seine vielen abwertenden Bemerkungen zum deutschen Wesen, sind wohl auch eine Folge dessen, dass er in Deutschland nach dem Buch „Die Geburt der Tragödie" seine Reputation als Philologe einbüßte. Er sah eine aus dem sokratischen Geist entstandene wissenschaftliche Fragestellung, die zu einer Verdunklung der europäischen Kultur geführt habe. Ferner sprach er sich zum ersten Mal öffentlich gegen die christliche Kirche aus, soweit er darin die Priester und Ministranten als bösartige Zwerge sah (24. Abschnitt). Die Geburt der Tragödie war der erste Akt der Vereinsamung. Mutter und Schwester brachten ihn im Sommer 1883 so weit, dass er versuchte, an eine Universität zurückzukehren. In Leipzig wurde im unmissverständlich bedeutet, dass er in Deutschland wegen seiner Einstellung zum Christentum keine Stelle mehr in einer Universität erhalten könne. Nun, ich bin davon überzeugt, dass dies wohl auch zu seinem übertrieben deutschfeindlichen Bild geführt hat. Mir scheint, dass er damit die Lehre seines Zarathustra selbst nicht beachtete, der ja verkündete, die Erlösung des Menschen von der Rache sei das höchste.

 

a) Aus "Warum ich so weise bin", Kapitel 3

"Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches."

 

b) Aus "Warum ich so klug bin", Kapitel 3

„Soweit Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur"

 

c) Aus "Warum ich so klug bin", Kapitel 3

„So wie ich bin, in meinem tiefsten Instinkten Allem, was deutsch ist, fremd, so dass schon die Nähe eines Deutschen meine Verdauung verzögert,…….."

 

d) Aus "Der Fall Wagner", Kapitel 3

Der „deutsche Geist" ist meine schlechte Luft: ich athme schwer in der Nähe dieser Instinkt gewordnen Unsauberkeit……"

 

e) Aus "Der Fall Wagner", Kapitel 4

„- Und warum sollte ich nicht bis ans Ende gehn? Ich liebe es, reinen Tisch zu machen. Es gehört selbst zu meinem Ehrgeiz, als Verächter der Deutschen par excellence zu gelten. Mein Misstrauen gegen den deutschen Charakter habe ich schon mit sechsundzwanzig Jahren ausgedrückt (dritte Unzeitgemässe S. 71) - die Deutschen sind für mich unmöglich. Wenn ich mir eine Art Mensch ausdenke, die allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so wird immer ein Deutscher daraus. Das Erste, worauf hin ich mir einen Menschen "nierenprüfe", ist, ob er ein Gefühl für Distanz im Leibe hat, ob er überall Rang, Grad, Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht, ob er distinguirt damit ist man gentilhomme; in jedem andren Fall gehört man rettungslos unter den weitherzigen, ach! so gutmüthigen Begriff der canaille. Aber die Deutschen sind canaille - ach! sie sind so gutmüthig ... Man erniedrigt sich durch den Verkehr mit Deutschen: der Deutsche stellt gleich ... Rechne ich meinen Verkehr mit einigen Künstlern, vor Allem mit Richard Wagner ab, so habe ich keine gute Stunde mit Deutschen verlebt ... Gesetzt, dass der tiefste Geist aller Jahrtausende unter Deutschen erschiene, irgend eine Retterin des Capitols würde wähnen, ihre sehr unschöne Seele käme zum Mindesten ebenso in Betracht ... Ich halte diese Rasse nicht aus, mit der man immer in schlechter Gesellschaft ist, die keine Finger für nuances hat - wehe mir! ich bin eine nuance -, die keinen esprit in den Füssen hat und nicht einmal gehen kann ... Die Deutschen haben zuletzt gar keine Füsse, sie haben bloss Beine ... Den Deutschen geht jeder Begriff davon ab, wie gemein sie sind, aber das ist der Superlativ der Gemeinheit, - sie schämen sich nicht einmal, bloss Deutsche zu sein ... Sie reden über Alles mit, sie halten sich selbst für entscheidend, ich fürchte, sie haben selbst über mich entschieden."

 

III. Vorwurf an Nietzsche, er sei Antisemit gewesen

 

Aus Nietzsche nachträglich einen Antisemiten machen zu wollen ist in etwa gleichbedeutend mit dem untauglichen Wunsch, das Wasser vom Meer bergauf fließen zu lassen. Ohne den Ernst des sich nach Nietzsche anbahnenden geschichtlichen Hintergrundes wären die späteren Vereinnahmungsversuche geradezu als Köpenickiade zu begreifen, nämlich wie es wohl möglich war, einen projüdischen und das Deutschtum ablehnenden Nietzsche dem völkischen Hornvieh als mustergültigen deutschen Vorzeige-Antisemiten zu präsentieren. Das Hornvieh, welches sich in seinen Alltäglichkeiten verflüchtigte, konnte wohl auch nicht aus eigener Kraft erkennen, dass zum Klientel der ersten Nietzsche-Anhänger gerade viele Juden und Halbjuden waren, etwa Georg Brandes, Karl Löwith und etwa auch Oscar Levy.

 

III.1 In Nr. 475 aus Menschliches, Allzumenschliches (1878) sieht er , dass der Nationalismus die Juden wegen ihrer Tatkräftigkeit und höheren Intelligenz als Sündenbock für alle möglichen Übelstände präsentiert. Er bezeichnet die Juden als genauso wünschenswerte Ingredienz einer europäischen Mischrasse, wie irgendwelche anderen nationalen Reste.

 

„Beiläufig: das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willens-Capital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die literarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt-und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden-, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen. Sobald es sich nicht mehr um Conservirung von Nationen, sondern um die Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest. Unangenehme, ja gefährliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder Mensch; es ist grausam, zu verlangen, dass der Jude eine Ausnahme machen soll. Jene Eigenschaften mögen sogar bei ihm in besonderem Maasse gefährlich und abschreckend sein; und vielleicht ist der jugendliche Börsen-Jude die widerlichste Erfindung des Menschengeschlechtes überhaupt. Trotzdem möchte ich wissen, wie viel man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches, nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt. Ueberdiess: in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Aerzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange festhielten und Europa gegen Asien vertheidigten; ihren Bemühungen ist es nicht am wenigsten zu danken, dass eine natürlichere, vernunftgemässere und jedenfalls unmythische Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb. Wenn das Christenthum Alles gethan hat, um den Occident zu orientalisiren, so hat das judenthum wesentlich mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren: was in einem bestimmten Sinne so viel heisst als Europa's Aufgabe und Geschichte zu einer Fortsetzung der griechischen zumachen."

 

III.2 In Nr. 251 von Jenseits von Gut und Böse (1886) empfiehlt er, antisemitische Schreihälse des Landes zu verweisen

 

„ Man muss es in Kauf nehmen, wenn einem Volke, das an nationalem Nervenfieber leidet, leiden will-, mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehen, kurz, kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romanische".

Antisemitische Strömungen sah er bereits als deutsche Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes an. Dieser Instinkt der deutschen Art, die er als schwach und unbestimmt bezeichnete, wäre darauf gerichtet, sich vor der Auslöschung durch eine andere Rasse zu schützen. Nietzsche bezeichnete die Juden als die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die in Europa lebt, die es versteht, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen."

Er schrieb über die Juden weiter:

"Sie dürsten danach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem "ewigen Juden" ein Ziel zu setzen-; und man sollte diesen Zug und Drang wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen".

 

III.3 In der dritten Abhandlung von „Genealogie der Moral" beschreibt er unter Nr. 26 die christlich-arisch-biedermännischen Antisemiten, die als Agitatatoren die Hornviehelemente des Volkes gegen die Juden aufzuregen versuchen, was ihnen wegen der Verödung des deutschen Geistes auch gelinge"

 

„ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen (dass jede Art Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne Erfolg bleibt, hängt mit der nachgerade unableugbaren und bereits handgreiflichen Verödung des deutschen Geistes zusammen....)"

 

III.4 Nachlass, Nizza, den 29 März 1887: Brief an Theodor Fritsch und Nizza, Ende Dezember 1887: Brief an Elisabeth Förster-Nietzsche (Entwurf)

 

Die wohl überzeugendsten Argumente für seine nicht antisemtische Einstellung ergeben sich aus seinem Nachlass. Ein Verleger antisemitscher Briefe übersandte Nietzsche regelmäßig Abdrucke der erschienenen Blätter. Darin wird versucht bereits zu Lebzeiten Nietzsches Zarathustra für antisemitische Propaganda heranzuziehen, wogegen sich Nietzsche heftigst und entschiedenst wehrte. In einem Antwortbrief an den Verleger verwahrte er sich dagegen, dass der Name Zarathustra von Antisemiten in den Mund genommen würde. In seinen privaten Anmerkungen merkte er an, es gebe in Deutschland keine unverschämtere und stupidere Bande als diese Antisemiten und dass es dieses Gesindel wage, den Namen Zarathustra in den Mund zu nehmen. In einem Briefentwurf an seine Schwester beklagte er sich, dass es nun schon notwendig sei, sich gegen die Verwechslung mit der antisemitischen Canaille zu wehren. Im Briefentwurf vom Dezember 1887 an seine Schwester fordert er , „diese verfluchten Antisemiten-Fratzen" sollen nicht an sein Ideal, er meinte wohl den Zarathustra, greifen.

 

III.5 Nizza, den 29 März 1887: Brief an Theodor Fritsch

 

„Sehr geehrter Herr, hiermit sende ich Ihnen die drei übersandten Nummern Ihres Correspondenz-Blattes zurück, für das Verrtrauen dankend, mit dem Sie mir erlaubten, in den Principien-Wirrwarr auf dem Grunde dieser wunderlichen Bewegung einen Blick zu thun. Doch bitte ich darum, mich fürderhin nicht mehr mit diesen Zusendungen zu bedenken: ich fürchte zuletzt für meine Geduld. Glauben Sie mir: dieses abscheuliche Mitredenwollen noioser Dilettanten über den Werth von Menschen und Rassen, diese Unterwerfung unter "Autoritäten," welche von jedem besonneneren Geiste mit kalter Verachtung abgelehnt werden (z. B. E. Dühring, R. Wagner, Ebrard, Wahrmund, P. de Lagarde—wer von ihnen ist in Fragen der Moral und Historie der unberechtigtste, ungerechteste?), diese beständigen absurden Fälschungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe "germanisch," "semitisch," "arisch," "christlich," "deutsch"—das Alles könnte mich auf die Dauer ernsthaft erzürnen und aus dem ironischen Wohlwollen herausbringen, mit dem ich bisher den tugendhaften Velleitäten und Pharisäismen der jetzigen Deutschen zugesehen habe.

— Und zuletzt, was glauben Sie, das ich empfinde, wenn der Name Zarathustra von Antisemiten in den Mund genommen wird?"

 

III.6 Nachlass, KSA 12, 321


"
Neulich hat ein Herr Theodor Fritsch aus Leipzig an mich geschrieben. Es giebt gar keine unverschämtere und stupidere Bande in Deutschland als diese Antisemiten. Ich habe ihm brieflich  zum  Danke  einen  ordentlichen  Fußtritt  versetzt. Dies Gesindel wagt es, den Namen Zarathustra in den Mund zu nehmen! Ekel! Ekel! Ekel!"

III.7 Nachlass, KSA 12, 200

 

„Inzwischen hat ein sehr sonderbarer Herr, Namens Theodor Fritsch aus Leipzig mit mir correspondirt: ich konnte nicht umhin, da er zudringlich war, ihm ein paar freundliche Fußtritte zu versetzen. Diese jetzigen "Deutschen" machen mir immer mehr Ekel."

 

III.8  Nizza, Ende Dezember 1887, Brief an Elisabeth Förster-Nietzsche (Entwurf)

Man hat mir inzwischen schwarz auf weiß bewiesen, daß Herr Dr Förster auch jetzt noch nicht seine Verbindung mit der antisemitischen Bewegung aufgegeben hat. Ein Leipziger Tolpatsch und Biedermeyer (Fritsch, wenn ich mich recht erinnere) unterzog sich dieser Aufgabe,—er übersandte mir bisher regelmäßig, trotz meines energischen Protestes die antisemitische Correspondenz (ich habe nichts Verächtlicheres bisher gelesen als diese Correspondenz) Seitdem habe ich Mühe, etrwas von der alten Zärtlichkeit und Schonung wie ich sie gegen Dich so lange gehabt habe zu Deinen Gunsten geltend zu machen, die Trennung zwischen uns ist ja nachgerade damit in der absurdesten Weise festgestellt. Hast Du gar nichts begriffen, wozu ich in der Welt bin?

Willst Du einen Katalog der Gesinnungen die ich als antipodisch empfinde? Du findest sie ganz hübsch bei einander in den "Nachklängen zum Parsifal" Deines Gatten; als ich sie las, ging mir als haarsträubende Idee auf, daß Du nichts, nichts von meiner Krankheit begriffen hast, ebenso wenig als mein schmerzhaftes und überraschendstes Erlebniß—daß der Mann, den ich am meisten verehrt hatte, in einer ekelhaften Entartung gradwegs in das überging, was ich immer am meisten verachtet hatte, in den Schwindel mit moralischen und christlichen Idealen.— Jetzt ist so viel erreicht, daß ich mich mit Händen und Füßen gegen die Verwechslung mit der antisemitischen Canaille wehren muß; nachdem meine eigne Schwester, meine frühere Schwester wie neuerdings wieder Widemann zu dieser unseligsten aller Verwechslungen den Anstoß gegeben haben. Nachdem ich gar den Namen Zarathustra in der antisemitischen Correspondenz gelesen habe, ist meine Geduld am Ende—ich bin jetzt gegen die Partei Deines Gatten im Zustand der Notwehr. Diese verfluchten Antisemiten-Fratzen sollen nicht an mein Ideal greifen!!

Daß unser Name durch Deine Ehe mit dieser Bewegung zusammen gemischt ist, was habe ich daran schon gelitten! Du hast die letzten 6 Jahre allen Verstand und alle Rücksicht verloren.

Himmel, was mir das schwer wird!"

III.9 Nachlass Dezember 1888—Anfang Januar 1889 25 [11]

Drei Jahrzehnte später war bereits von einem der gefährlichen Ausnahmemenschen, vor denen Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse 1886 gewarnt hatte, das Werk „Mein Kampf“ geschrieben. Darin prangerte Hitler das sogenannte Finanzjudentum an, einer der Ausgangspunkte Judenvernichtung. Das Paradoxe auf die Spitze getrieben ist dann das für deutsche Soldaten und Kämpfer über Nietzsche verfasste Verfälschungswerk „Schwert des Geistes“. Während Hitler die Bankiers als seine größten Feinde bezeichnete, beschrieb sie Nietzsche als seine größten Verbündeten.

„Ein letztes Wort. Ich werde von jetzt ab hülfreiche Hände—unsterbliche Hände!—ohne Zahl nöthig haben, die Umwerthung soll in 2 Sprachen erscheinen. Man wird gut thun überall Vereine zu gründen, um mir zur rechten Zeit einige Millionen Anhänger in die Hand zu geben. Ich lege Werth darauf, zunächst die Offiziere und die jüdischen Banquiers für mich zu haben:—Beide zusammen repräsentiren den Willen zur Macht. —

Wenn  ich  nach  meinen  natürlichen  Verbündeten  frage,  so  sind das vor Allem die Offiziere; mit militärischen Instinkten im Leibe kann man nicht Christ sein,—im andern Fall wäre man falsch als Christ und falsch außerdem noch als Soldat. Insgleichen sind die jüdischen Banquiers meine natürlichen Verbündeten als die einzige internationale Macht ihrem Unsprung wie ihrem Instinkt nach, die die Völker wieder bindet, nachdem eine fluchwürdige Interessen-Politik aus der Selbstsucht und Selbstüberhebung der Völker eine Pflicht gemacht hat.“

 

IV. Vorwurf an Nietzsche, er habe mit dem Begriff des „Übermenschen" Züchtungsphantasien geschaffen

 

IV.1 Übermensch

 

Die heutige Kritik beschäftigt sich überwiegend damit, Nietzsche wollte den Übermenschen züchten, dies mit Schwerpunkt auf rassische Merkmale.

Nietzsches Übermensch war und ist eine Studie des neuen Denkens, nach der Überwindung des alten Denkens, die Genomseite wurde von ihm nirgends auch nur andeutungsweise angedacht. Nur der zu sich selbst gefundene Übermensch als der bessere Mensch, der über den alten Menschen hinausgeht, ist in der Lage, den die ewige Wiederkehr des Lebens beschreibenden Kreis, die sogenannte ewige Wiederkunft des Gleichen, zu durchschreiten, um den Frevel an der Erde zu beenden. Was bringt das Stück des Zarathustra eigentlich für den Menschen. Ich denke, sehr viel. Das ganze ist als Metapher zu sehen. Auch der (Übermensch), der bessere Mensch, den jeder zu werden versuchen sollte, ist weiterhin den Anfeindungen des kleinen Menschen ausgeliefert. Dadurch dass er immer wieder aufs neue herausgefordert wird, muss er sich auch ständig neu bedenken und immer bereit sein, sich zu ändern.

Demgegenüber ist die Genomfrage bei der Menschenzüchtung viel mehr das Thema unserer Tage, nämlich die Gentechnik und die wahrscheinlich künftigen Möglichkeiten der neurologischen Wissenschaften.

Da wäre die vom Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk in seinem Elmauer Vortrag im Juli 1999 (Philosophie nach Heidegger, über die Regeln vom Menschenpark ) angedachte gentechnische Revision der Menschheit, um dem Prozess der fortschreitenden „Kleintierzüchtung" und geistigen Vermopsung entgegenwirken.

Während anfangs noch einige übereifrige Hofberichterstatter versuchten, Slotterdijk als Deutschen mit Blickpunkt auf die oft bemühte und strapazierte "besondere Verantwortung der deutschen Geschichte" in eine missliebige politische Ecke abzudrängen, blieb ihnen 2 Jahre später der Auftritt des Briten Stephan W. Hawking anlässlich des Interviews zur Vorstellung seines neuen Buches -Das Universum in der Nußschale- im Halse stecken. Er bezeichnete die natürliche Auslese zur Reduzierung des Aggressionstriebes als zu langsam, dies erfordere einen gezielten gentechnischen Eingriff in das Erbgut. In seinem Buch stellte er einen solchen Eingriff zwar als nicht erstrebenswert hin, äußerte jedoch, dass er auf jeden Fall kommen werde, ob wir das nun wünschen oder nicht.

Wohlgemerkt, Nietzsche erwähnte solche Denkspiele nicht mit einem einzigen Wort.

Das Gesamtbild führt mich zum Ergebnis, dass ein Ansinnen, Nietzsche würde den Übermensch mit der Frage des Genoms verbinden, eher dem Bereich der geistigen Flatulenz statt einer ernstlichen Auseinandersetzung zugerechnet werden müsse, vielmehr ist er davon so weit entfernt, wie ein Alkoholiker von der Buttermilch.

 

IV.2 Übermensch im Zarathustra

 

Die Antwort, was Nietzsche unter dem Übermenschen verstand, finde ich in seinem Werk „Also sprach Zarathustra".

Geboren aus der Komplexität und des nicht nur teilweise unergründlich Visionären zeigt sich bis sich bis zur jetzigen Stunde kein Denkender, der dem Grundgedanken des Zarathustra gewachsen wäre und seine Herkunft in ihrer Tragweite ermessen könnte.

Ich habe mir eine für mich einsichtige Interpretation fühlbar gemacht, entdecke dennoch auch Widersprüche, die ich noch nicht durchschaue.

Wer ist Zarathustra?
Bevor Zarathustra später sein weiteres Schicksal offenbart wird, der Lehrer der ewigen Wiederkunft zu sein, gilt zunächst die Botschaft des Beginns seines Weges "Ich lehre euch den Übermenschen".
Zarathustra ist nur der Lehrer, nicht der Übermensch selbst.
Nietzsche hat sich auch nicht als Zarathustra verstanden, sondern als der Fragende, der Zarathustras Wesen erforscht. Martin Heidegger stellte in seinem Buch „Holzwege" fest, bei dem Wort "Übermensch" müsse man allerdings alle falschen und verwirrenden Töne fernhalten, die für das gewöhnliche Meinen klingen, die Terminologie dürfe nicht auf das Wort reduziert werden.
Mit Übermensch meint Nietzsche nicht den eindimensionalen bisherigen Menschen. Er meint auch nicht eine Menschenart, die das Humane wegwirft und die nackte Willkür zum Gesetz und eine titanische Raserei zur Regel macht.


Doch woher stammt der SOS-Ruf, die große Sehnsucht nach dem Übermenschen?
Weshalb genügt der bisherige Mensch nicht mehr?
Weil Nietzsche den geschichtlichen Augenblick erkennt, da der Mensch sich anschickt, die Herrschaft über die Erde im Ganzen anzutreten. Nietzsche ist der erste Denker, der im Hinblick auf die heraufkommende Weltgeschichte die entscheidende Frage stellt, und sie in ihrer Tragweite durchdenkt.

Die Frage lautet:
Ist der Mensch als Mensch und Teil des Ganzen mit all seinen Veranlagungen für die Übernahme der Erdherrschaft vorbereitet?

Nietzsche erkannte und stellte die Frage, was mit dem bisherigen Menschen passieren müsse, damit er der Aufgabe gerecht werden kann. Dabei kam er zum Ergebnis, dass der bisherige Mensch über sich selbst hinausgebracht werden müsse.

 

So eine Forderung ist ja auch nicht neu. Dazu ist es meines Erachtens erforderlich, dass sich der Mensch lotet, feststellt, wo er eigentlich steht. Es ist auch nicht eine aussenstehende Macht oder eine zur Bewältigung von Angst und Furcht selbstkonstruierte „Göttlichkeit“, sondern nur der Mensch selbst kann diese Aufgabe vollbringen.

Diese Notwendigkeit ist nicht eine Frage des konjunktivischen, sondern des imperativischen Denkens, der Mensch muss heute zwingend wegen der physischen Überlebensnotwendigkeit von seinem Kleinmenschendasein über sich hinausgebracht werden. Hier schließt sich -aus meiner Sicht- auch der Kreis zum berühmten Häuptling Seattle und seiner Rede von 1855 (Am Todestag von Seattle war Nietzsche 22 Jahre alt), der vom Roden des letzten Baumes und Vergiften des letzten Flusses sprach und prophezeite, dass der weiße Mann an seinem eigenen Abfall ersticken werde, sollte er fortfahren, sein „Bett" weiter zu verseuchen.

Das meinte Nietzsche auch mit dem Übermenschen, ein Mensch der loslassen kann, bereit ist, sich auf sich selbst zurückfallen zu lassen. Die Geburt eines neuen Lebensgefühls durch Verzicht, nämlich dem Verzicht des ungestümen, rücksichtslosen anthropologischen Vorwärtsschreitens.

 

Steht es so, dann kann der recht gedachte "Übermensch" kein Produkt einer zügellosen und ausgearteten und ins Leere wegstürmenden Phantasie sein.
Der Übermensch geht über die Art des bisherigen und heutigen Menschen hinaus und ist so ein Übergang, eine Brücke.

Dieser Typus Übermensch, der sich als Übermensch gefunden gefunden hat, schüttet keine Säure mehr ins Meer und er schlachtet auch keine Robbenbabys mehr ab, auch entsagt er den unzähligen, den Geist verflachenden, Verdummungsshows unserer Medien.

Gerade diese prophetischen Visionen machen im Hinblick auf die bestehenden assymetrischen Schieflagen im ökologischen Bewusstsein des Menschen sehr nachdenklich.

 

Nietzsche als Fragender macht -meines Erachtens aus heutiger Sicht- bereits erste Anleihen zur Ökologie im 19. Jahrhundert. Wieder ist Nietzsche neben dem Diagnostiker und dem Zerstörer auch Prophet, zeigt bereits Ansätze einer sich später als Alltag erweisenden Prophetie, der Zerstörung unserer Umwelt nämlich.

 

Mit der Beschwörung an die Menschen (Nummer 3 der Vorrede), der Erde treu zu bleiben, spricht er an, eben das Wesen der Erde so sein zu lassen, wie es ist. Indirekt sprach er den Menschen die Fähigkeit ab, das Wesen der Erde zu respektieren, deshalb bedürfe es des Übermenschen, der in der Überwindung des Menschen dadurch zu sich selbst heimfindet und erkennt, dass er als Leitschöpfung verantwortungsvoll mit der Erde umgehen muss.

 

Die Verkündung des neuen Zeitalters setzt aber die Bereitschaft des Menschen für das Neue voraus, die erst dann entstehen kann, wenn entsprechend der ersten zarathustrischen Rede „Von den drei Verwandlungen" die Metamorphose vom Kamel zum Löwen erfolgte. Der Löwe im Kampf mit dem großen Drachen, der die alten überkommenen Werte symbolisiert, kann zwar noch keine neuen Werte schaffen, lediglich die Freiheit zu neuem Schaffen sei in der Macht des Löwen. Erst das Kind als der neue Mensch kann dann neue Werte schaffen, das Spiel des Schaffens spielen. Der Mensch als Löwe ist sich jedoch der Brückenfunktion seiner Spezies bewusst, die Zarathustra in Nr. 4 seiner Vorrede anspricht:

„Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch, - ein Seil über seinem Abgrunde."

Derzeit ist der Mensch jedoch noch mehr Kamel als irgendein Kamel ein Kamel ist. Dies zeigt das an Gewinnmaximierung ausgerichtete menschliche Tun. Das Erlangen des Bewussteins der Notwendigkeit, sich von den Lasten des Kamels zu befreien, wird eines Tages nicht angeboren sein, sondern es wird entstehen, entweder als Produkt des logos, der Vernunft, oder behaucht aus schierer Angst, etwa der Angst des Untergangs in der Folge ökologischen Fehlverhaltens.

 

Nietzsche beschreibt in Nr. 2 des Stückes vom „Genesenden" auch ausführlich, wie der Mensch zu sich selbst ist, daraus leitet er gerade die Notwendigkeit ab, dass er erst zu sich selbst finden muss. Dies gehe aber nur dadurch, dass der Mensch metaphermäßig verschwindet, seine gesamte Grundstruktur einer Neuausrichtung zuführt.

 

"Der Mensch nämlich ist das grausamste Tier.
Bei Trauerspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen ist es ihm bisher am wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hölle erfand, siehe, da war das sein Himmel auf Erden".


Er spricht damit aus, dass das Grausame wohl ein Wesenszug des Menschen sei.
Er spricht weiter:
"Ach, meine Thiere, Das allein lernte ich bisher, dass dem Menschen sein Bösestes nötig ist zu seinem Besten, -
- dass alles Böseste seine beste Kraft ist und der härteste Stein dem höchsten Schaffenden; und dass der Mensch besser und böser werden muss: "
Im Stück vom höheren Menschen bestätigten ihm dann die Weisen unter Nr. 5, dass das Böse des Menschen beste Kraft sei. Zarathustra sprach darauf: "Der Mensch muss besser und böser werden. Das Böseste ist nötig zu des Übermenschen Besten"


Damit meinte er, dass das Böse notwendig sei, nur durch das Böse geht der Mensch zugrunde und kann durch den Übermenschen überwunden werden. Nietzsche meinte natürlich mit Übermensch keine rassischen Merkmale, sondern er meinte damit den "besseren Menschen", siehe die Formulierung "besser und böser".

Von Bedeutung scheint mir die Frage, wie sich Nietzsche das „Hinübergehen", den Übergang des Menschen zum Übermenschen vorstellt. Einen Hinweis darauf finden wir im Zweiten Teil im Stück „Von den Taranteln" in dem Zarathustra sagt:

 

„Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern"

 

Diejenigen, die Nietzsche verkleinern wollen auf den Antreiber zum Willen zur Macht, zu Gewaltpolitik und Krieg, zur Raserei der „blonden Bestie" versagen angesichts der Macht, die hinter diesem kleinen Sätzchen steht.

Weshalb erwähnt der völlig unkriegerische Nietzsche und sein ebenso unkriegerischer Zarathustra überhaupt etwas von einem Krieger?

 

Was meint Nietzsche überhaupt mit der Erziehung zum Kriege. Er meint natürlich nicht den physischen Krieg, war er selbst doch ein miserabler Krieger, dessen militärische Karriere mit einem Pferdeunfall beendet war. Was sollte Nietzsche mit einem Übermenschen anfangen, soll der etwa 2 Meter groß und unverwundbar sein, der unbesiegbare Soldat etwa?

 

Mit derlei militärischem Gehabe hatte Nietzsche überhaupt nichts im Sinne. Möglicherweise ist dies aber das Ziel eines Staates, der mit der „in god we trust- Kampagne weltweit unterwegs ist, Ländern den Frieden zu bringen, mit cruise missiles und Flugzeugträgern zur Durchsetzung der weltweiten Dominanz, der sogenannten „Full spectrum dominance".

 

Der Krieger ist ein Teil der Lebensmächtigkeit des Menschen, die ihn überhaupt befähigt, über die Brücke hinüberzugehen zum besseren Menschen, zum Übermenschen, zum Menschen, der über sich hinausgeht. Der behäbige, angepasste, sich selbst gefallende und in Ziellosigkeit erstarrende Mensch geht überhaupt nirgends mehr hin, er verharrt.

Ein solcher verharrende Mensch ist auch nicht mehr bereit, Schieflagen zu erkennen oder erkannte zu korrigieren. Als kosmisches Treibgut schaut er zu, wie möglicherweise Entwicklungen irreparabel werden, immer darauf bedacht, sich in den Fußstapfen der Herde zu bewegen.

Nietzsches Prophetie in Aphorismus 242 in Jenseits von Gut und böse sollte sich bald bewahrheiten, in dem er als Folge des Nationaldenkens das Heraufkommen von Menschen der gefährlichsten Art anmahnte.

Die Herde, die gelebte Beschreibung der Vielzahl der Mutlosen und Verharrenden, hat der Entwicklung zugeschaut und diese beklatscht.

Die Bezeichnung des Kriegers ist das Synonym für Mut und genau dieses Mutes bedarf es für die abschließende, die letzte Handlung des Menschen, bevor er sich auf die Brücke begibt. Bei dieser Gelegenheit lernen wir, dass Mut hier als Grundlage dafür zu sehen ist, sich selbst zu finden, zu „sich heimzukehren". Damit ist nicht der Mut gemeint, andere besiegen zu können, denn nur wer sich selbst besiegt ist weise.

Damit zurück zum Ausspruch, „dass der Mensch erlöst werde von der Rache", darauf ist Nietzsches Denken gerichtet, auf die Erlösung. Er sieht einen menschlichen Geist, der frei ist von Rache, von der Notwendigkeit zur Rache.

Im Stück des Genesenden erhalten wir noch eine weitere wichtige Aussagen, nämlich, dass Zarathustra ein Fürsprecher ist und ein Lehrer der ewigen Wiederkunft

Gegen Ende des dritten Teiles steht in der Überschrift „Der Genesende" Das ist Zarathustra! Der Genesende bedeutet im Griechischen auch heimkehren. Der Genesende ist also derjenige, der sich zur Heimkehr sammelt, nämlich zur Einkehr in seine Bestimmung. Der Genesende ist unterwegs zu sich selbst, so dass er von sich sagen kann, wer er ist.

 

Er spricht den Satz

„ Ich Zarathustra, der Fürsprecher des Lebens, der Fürsprecher des Leidens, der Fürsprecher des Kreises.

 

Diese Drei: Leben - Leiden - Kreis gehören zusammen.

Mit „Ich bin der Fürsprecher des Lebens" meint Zarathustra die Bejahung des Lebens als Wille zur Macht, der Grundzug alles Seienden.

Mit Leiden meint er, dass der schaffende Wille leidet.

Mit Kreis meint er das Zeichen des Ringes, dessen Ringen in sich selbst zurückläuft und so immer das wiederkehrende Gleiche erringt.

 

Ebenfalls im Stück vom Genesenden spricht er aus:

„Diese Herrn von Heute überwindet mir, oh meine Brüder, - diese kleinen Leute: die sind des Übermenschen grösste Gefahr!" und ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine Mensch kehrt ewig wieder!''

 

Im Kontext besagt dies nichts anderes, dass nur der Krieger, der Mutige in der Lage ist, den Kreis der ewigen Wiederkehr, die zum ewigen Wiederkäuen des bereits Gekauten verdammt, durchbrechen kann, während der kleine Mensch immer wieder von neuem den behaglichen Pfaden der Herde folgt. Damit löst sich auch der vermeintliche Widerspruch, nach dem der Mensch zwar einerseits zum Übermenschen werden soll, jedoch der kleine Mensch ständig wiederkehrt, die Veranlagung des kleinen Menschen immer erneut eine Versuchung darstellt.

IV.3 Übermensch im „Antichrist“

 

Wenn man ernsthaft um die Auseinandersetzung des Begriffes „Übermensch“ und Menschenzüchtung verstehen will, muss man sein Buch „Der Antichrist" gelesen haben, sonst bleibt alles ein seichtes Dahergerede. Im Antichrist gebrauchte er das Wort in einer tieferen Betrachtung. Antichrist entstand 1888, also inmitten der Schöpfungsphase des Zarathustra 1883-1891). Was lernen wir daraus.

Nun, Nietzsche wurde von Deutschen instrumentalisiert, jener Rasse, die er als nicht auszuhalten bezeichnete. Der Antichrist gibt abschließende Antwort, dass ein höherer Typus Mensch als eine „Art Übermensch" an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Kulturen heraus möglich sei und in Einzelfällen bereits da war. Das Christentum machte er ganz offen dafür verantwortlich, eine Verbreitung dieses höherwertigen Typus Mensch zu verhindern. Im Umkehrschluss will er dann den höherwertigen Typus Mensch auf jeden Fall wohl nicht im damals christlich geprägten Deutschland verwirklicht sehen. Wo er diesen Typus verwirklicht sah, hat er jedoch nicht explizit erläutert. Ich vermute im Hinblick auf seine unverhohlene Sympathie zum brahmanischen, buddhistischen (sh Antichrist Nr. 20,21 und 56-Gesetzbuch des Manu- sowie Nr. 3 des Kapitels „Die Verbesserer der Menschheit aus Götzen-Dämmerung) wohl eher im indischen Kulturraum.

aus Kap. 3 Antichrist:

„Nicht was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem, das ich hiermit stelle (- der Mensch ist ein Ende -): sondern welchen Typus Mensch man züchten soll, wollen soll, als den höherwertigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren.
Dieser höherwertigere Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt.
Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe das Furchtbare; - und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, - der Christ ...

 

aus Kap. 4 Antichrist:

 

„Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der "Fortschritt" ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von heute bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgend welcher Notwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung. In einem anderen Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Kulturen heraus, mit denen in der Tat sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das im Verhältnis zur Gesamt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche Glücksfälle des großen Gelingens waren immer möglich und werden vielleicht immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme, Völker können unter Umständen einen solchen Treffer darstellen."

 

IV.4 Übermensch in „Götzendämmerung“

 

Noch vor der Fertigstellung des Zarathustra und ein Jahr nach Erscheinen des „Antichrist" erscheint Nietzsches Werk „Götzen-Dämmerung, erstmals erschienen 1889.

In „Götzen-Dämmerung" im Abschnitt „Die Verbesserer der Menschheit" kritisierte Nietzsche im Kapitel 3 Satz 7 die rassisch-züchterischen Abschottungsmaßnahmen der indischen Arier als das den Gefühlen am meisten Widersprechende, bezeichnete in Kapitel 4 Satz 1 die arische Humanität für gefährlich und in Kapitel 5 Satz 1 und 6 die Moral der Züchtung und Zähmung als gleichwertig und unmoralisch. Dadurch ist der Vorwurf jeglicher Züchtungsphantasie entzaubert.

 

IV. 4 a) In Kap. 2 definiert er den ersten Fall, nämlich die Zähmung des Menschen

 

anhand der später fast ausschließlich einseitig interpretierten „blonden Bestie". Ihm wird von der Nietzsche-Inquisition bis heute vorgeworfen, die blonde Bestie gezüchtet haben zu wollen. Tatsächlich steht dort nachlesbar, dass er lediglich der Kirche vorwarf, die Germanen durch Zähmung „verbessert" zu haben. Er beschrieb dies jedoch als einen Prozess, indem die Kirche unter Zuhilfenahme der Priester die germanisch-heidnischen Menschen „Bestien" krank gemacht haben. Die Kirche habe erkannt, dass im Kampf mit der Bestie „Krankmachen" das einzige Mittel sein kann, sie schwach zu machen. Nach seiner Meinung habe es die Kirche verstanden, den Menschen zu verderben, ihn zu schwächen, andererseits dann in Anspruch zu nehmen, ihn „verbessert" zu haben und dies auch noch als Moral zu bezeichnen.

Götzendämmerung Abschnitt „Die Verbesserer der Menschheit" Kap. 2:

„Ein erstes Beispiel und ganz vorläufig. Zu allen Zeiten hat man die Menschen "verbessern" wollen: dies vor Allem hiess Moral. Aber unter dem gleichen Wort ist das Allerverschiedenste von Tendenz versteckt. Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch als die Züchtung einer bestimmten Gattung Mensch ist "Besserung" genannt worden:, erst diese zoologischen termini drücken Realitäten aus - Realitäten freilich, von denen der typische "Verbesserer," der Priester, Nichts weiss - Nichts wissen will ... Die Zähmung eines Thieres seine "Besserung" nennen ist in unsren Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiss, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, dass die Bestie daselbst "verbessert" wird. Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur krankhaften Bestie. - Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester "verbessert" hat. Im frühen Mittelalter, wo in der That die Kirche vor Allem eine Menagerie war, machte man allerwärts auf die schönsten Exemplare der "blonden Bestie" Jagd, - man "verbesserte" zum Beispiel die vornehmen Germanen. Aber wie sah hinterdrein ein solcher "verbesserter," in's Kloster verführter Germane aus? Wie eine Caricatur des Menschen, wie eine Missgeburt: er war zum "Sünder" geworden, er stak im Käfig, man hatte ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt ... Da lag er nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller Hass gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen Alles, was noch stark und glücklich war. Kurz, ein "Christ..." Physiologisch geredet: im Kampf mit der Bestie kann Krankmachen das einzige Mittel sein, sie schwach zu machen. Das verstand die Kirche: sie verdarb den Menschen, sie schwächte ihn, - aber sie nahm in Anspruch, ihn "verbesserhaben ..."

 

IV. 4 b in Kap. 3 definiert er die zweite Fallvariante der Verbesserung, die Züchtung des Menschen

 

Im ersten Teil des Kap. 3 schwärmt er zwar im Grundsatz noch immer für das Gesetzbuch des Manu, äußerte jedoch, dass es auch die Arier zur Durchsetzung ihrer Macht notwendig hatten, die „Bestie", hier die Unterworfenen, krank zu machen. Er stellte bereits im Kap. 3 Satz 7 im Vorgriff fest, dass es vielleicht nichts dem Gefühle Widersprechenderes als diese Schutzmaßregeln der indischen Moral gebe. Im zweiten Teil der Kap. 3 beschreibt er dann im Detail, welche Verfügungen in der Form rassischer Abschottungsmaßnahmen die Arier gegen die Unterworfenen (Tschandalas, die Sudras waren die Dienstbotenrasse) trafen. Uns erscheinen sie heute nicht nur vielleicht, sondern im höchsten Maße.

Ich darf an dieser Stelle auf Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, verweisen, der unter dem Kapitel „Das vedische Zeitalter" die obige Verfahrensweisen der Abschottung der eingedrungenen Arier von der Urbevölkerung für die Entstehung des indischen Kastenwesens ursächlich macht.

Götzendämmerung Abschnitt „Die Verbesserer der Menschheit" Kap. 3:

„Nehmen wir den andern Fall der sogenannten Moral, den Fall der Züchtung einer bestimmten Rasse und Art. Das grossartigste Beispiel dafür giebt die indische Moral, als "Gesetz des Manu" zur Religion sanktionirt. Hier ist die Aufgabe gestellt, nicht weniger als vier Rassen auf einmal zu züchten: eine priesterliche, eine kriegerische, eine händler- und ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse, die Sudras. Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Thierbändigern: eine hundert Mal mildere und vernünftigere Art Mensch ist die Voraussetzung, um auch nur den Plan einer solchen Züchtung zu concipiren. Man athmet auf, aus der christlichen Kranken- und Kerkerluft in diese gesündere, höhere, weitere Welt einzutreten. Wie armselig ist das "neue Testament" gegen Manu, wie schlecht riecht es! - Aber auch diese Organisation hatte nöthig, furchtbar zu sein, - nicht dies Mal im Kampf mit der Bestie, sondern mit ihrem Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen, dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn ungefährlich, ihn schwach zu machen, als ihn krank zu machen, - es war der Kampf mit der "grossen Zahl." Vielleicht giebt es nichts unserm Gefühle Widersprechenderes als diese Schutzmaassregeln der indischen Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel (Avadana-Sastra 1), das "von den unreinen Gemüsen," ordnet an, dass die einzige Nahrung, die den Tschandala erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln sein sollen, in Anbetracht, dass die heilige Schrift verbietet, ihnen Korn oder Früchte, die Körner tragen, oder Wasser oder Feuer zu geben. Dasselbe Edikt setzt fest, dass das Wasser, welches sie nöthig haben, weder aus den Flüssen, noch aus den Quellen, noch aus den Teichen genommen werden dürfe, sondern nur aus den Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern, welche durch die Fusstapfen der Thiere entstanden sind. Insgleichen wird ihnen verboten, ihre Wäsche zu waschen und sich selbst zu waschen, da das Wasser, das ihnen aus Gnade zugestanden wird, nur benutzt werden darf, den Durst zu löschen. Endlich ein Verbot an die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen bei der Geburt beizustehen, insgleichen noch eins für die letzteren, einander dabei beizustehen ... - Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus: mörderische Seuchen, scheussliche Geschlechtskrankheiten und darauf hin wieder "das Gesetz des Messers," die Beschneidung für die männlichen, die Abtragung der kleinen Schamlippen für die weiblichen Kinder anordnend. - Manu selbst sagt: "die Tschandala sind die Frucht von Ehebruch, Incest und Verbrechen (- dies die nothwendige Consequenz des Begriffs Züchtung). Sie sollen zu Kleidern nur die Lumpen von Leichnamen haben, zum Geschirr zerbrochne Töpfe, zum Schmuck altes Eisen, zum Gottesdienst nur die bösen Geister; sie sollen ohne Ruhe von einem Ort zum andern schweifen. Es ist ihnen verboten, von links nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu bedienen: der Gebrauch der rechten Hand und des von Links nach Rechts ist bloss den Tugendhaften vorbehalten, den Leuten von Rasse."

 

IV. 4 c Nietzsche bezeichnet in Kapitel 4 die indisch-arische Humanität als gefährlich

 

In Kap. 4 besieht sich Nietzsche in einer geschichtlichen Rückschau die Maßnahmen der Arier gegen die Tschandalas, die sogenannte arische Humanität. Seinen Widerwillen gegen das arische lässt er bereits durch die Kursivsetzung des Wortes erkennen.

 

In der arische Humanität sah er als Folge des „reinen Blutes" das Gegenteil dessen, was als harmlos angesehen werden darf. Nietzsche gibt hier wieder einen Hinweis auf eine dualistische Gegensatzbetrachtung, ohne den Gegensatz des Begriffes harmlos selbst anzusprechen. Das Gegenteil von harmlos ist gefährlich, somit sieht Nietzsche direkt eine Interdependenz zwischen arisch und gefährlich. Jedenfalls darf geschlossen werden, dass er die Abschottungsmaßnahmen für gefährlich hielt.

Mit genau diesem Hintergrund des Gegenteils wurde Nietzsche später -etwa im krönerschen Buch für den deutschen Soldaten von 1941 „Schwert des Geistes" dann durch plakatives und selektiertes Zitieren instrumentalisiert.

 

Götzendämmerung Abschnitt „Die Verbesserer der Menschheit" Kap. 4 Auszug:

 

„Diese Verfügungen sind lehrreich genug: in ihnen haben wir einmal die arische Humanität, ganz rein, ganz ursprünglich, - wir lernen, dass der Begriff "reines Blut" der Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist."

 

IV.4 d in Nr. 5 definiert er die Moral der Züchtung und Zähmung als gleichwertig und erklärt beide Mittel für unmoralisch

 

Indem er in Kap. 5 dann schließlich meint, alle Mittel, wodurch die Menschheit moralisch gemacht werden sollten, vom Grunde aus unmoralisch seien, zementierte er natürlich auch, dass er die Züchtung in der Form der rassischen, genombedingten Abschottungsmaßnahmen für unmoralisch hielt

In Kap.5 Satz 1 macht unmissverständlich deutlich Nietzsche, dass die Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung in den Durchsetzungsmitteln gleich seien. Er macht also eine Gleichsetzung der christlichen Zähmung der heidnischen Germanen (blonden Bestien), die Nietzsches Instinkten in allen Facetten zuwiderlief, mit der gewollten züchterischen Zurücksetzung der indischen Urbevölkerung durch die Arier. Im Kap. 5 Satz 6 stellt er hierfür die Formel auf, dass alle Mittel, wodurch die Menschheit moralisch gemacht werden sollten, vom Grunde aus unmoralisch waren. Soweit er als Immoralist die Menschenzüchtung für unmoralisch hielt, hat dies eine hohe Aussagekraft und bildet das Epizentrum für die Erwiderung der Kritik.

 

Götzendämmerung Abschnitt „Die Verbesserer der Menschheit" Kap. 5:

 

„Die Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in den Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen als obersten Satz hinstellen, dass, um Moral zu machen, man den unbedingten Willen zum Gegentheil haben muss. Dies ist das grosse, das unheimliche Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der "Verbesserer" der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidne Thatsache, die der sogenannten pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit "verbesserten." Weder Manu, noch Plato, noch Confucius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz andren Rechten nicht gezweifelt ... In Formel ausgedrückt dürfte man sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch. -„

 

IV.5 Genomartiger Übermensch widerspricht Nietzsches anthropologischem Minimalismus aufs Äußerste

 

Dass Nietzsche mit dem Begriff Übermensch ein geistiges Modell ohne Genomseite sieht, ergibt sich auch eindeutig aus seiner von ihm vertretenen minimalistischen Anthropologie.

Der Ausspruch des Lehrers Zarathustra in Nr. 3 der Vorrede, der Mensch war Affe und auch jetzt noch sei der Mensch mehr Affe als irgendein Affe, führt er im 3. Teil im Stück des "Genesenden" fort.

Dies lässt auf Nietzsches Auffassung einer minimalistischen Anthropologie schließen, ähnlich eines Marcus Aurelius im Buch seiner Selbstbetrachtungen. Einen weiteren Hinweis dazu erhalten wir in seiner Schrift "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" von 1883.

Hier schreibt Nietzsche:


"In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«; aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. - So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt.".

 

Jemand, der eine solche Art von anthropologischem Minimalismus vertritt, ist sich darüber im Klaren, dass die Erde ein Fast-Nichts im Kosmos ist, die Spezies Mensch als die „klugen Tiere" nach der Erstarrung des Gestirns auch sterben müssen.

Später stellt er in seinem Werk „Der Antichrist" unter Nummer 14 fest, dass der Mensch überhaupt nicht die Krone der Schöpfung sei, sondern nur ein missratenes Tier. Letzlich entstand für ihn daraus die Notwendigkeit, dass sich der Mensch einer Neuausrichtung zum besseren Menschen stellen müsse.

 

„Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidner geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom "Geist", von der "Gottheit" ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren uns andrerseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte: wie als ob der Mensch die große Hinterabsicht der tierischen Entwicklung gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung: jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit ... Und indem wir das behaupten, behaupten wir noch zuviel: der Mensch ist, relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte - freilich, mit alledem, auch das interessanteste! „

 

V. Vorwurf an Nietzsche, er befürwortete eine Trennung von Sklavenmenschen (Sklavenmoral) und Herrenmenschen (Herrenmoral)

Aphorismus 260 des Achten Hauptstücks „Völker und Vaterländer" belehrt über das Vorhandensein einer Sklaven und Herrenmoral:

 

„Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt Herren-Moral und Sklaven-Moral; - ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander - sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. Die moralischen Werthunterscheidungen sind entweder unter einer herrschenden Art entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die beherrschte mit Wohlgefühl bewusst wurde, - oder unter den Beherrschten, den Sklaven und Abhängigen jeden Grades."

 

Er weist daraufhin, was der Vornehme verachtet:

„Verachtet wird der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende; ebenso der Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lügner:"

Nietzsche verbindet die Herrenmoral mit dem Begriff vornehm. Den vornehmen Menschen sieht er als wertbestimmend, wertschaffend an, folglich ist die Herrenmoral die Moral der Machthabenden. Der Herrenmoral ordnet er das dualistische Begriffspaar gut und schlecht zu.

Er erklärt, wer die Sklaven sind:

„Es steht anders mit dem zweiten Typus der Moral, der Sklaven-Moral. Gesetzt, dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden"

 

Er erklärt das Wesen der Sklavenmoral

„hier kommt das Mitleiden, die gefällige hülfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren -, denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral. Hier ist der Herd für die Entstehung jenes berühmten Gegensatzes "gut" und " böse" : - in's Böse wird die Macht und Gefährlichkeit hinein empfunden, eine gewisse Furchtbarkeit, Feinheit und Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen lässt. Nach der Sklaven-Moral erregt also der "Böse" Furcht; nach der Herren Moral ist es gerade der "Gute", der Furcht erregt und erregen will, während der "schlechte" Mensch als der verächtliche empfunden wird……"

Unstrittig wurde bereits in den 20-er Jahren lebhaft diskutiert, dass die Verwendung der beiden Begriffe zu den am meisten verkanntesten von Nietzsches Wirken gehören. Es ist eigentlich auch wissenschaftlicher Konsens, dass Nietzsche nur das Wertesystem ansprach, die Individuen.

Er wollte nachweislich keinen Wertekanon eingeführt wissen, dem gemäß bestimmte Völker sich nur zu Sklaven eignen oder andere nur zur Herrenrasse.

 

VI. Vorwurf an Nietzsche, er habe die Eugenik befürwortet

 

Eingangs möchte ich feststellen, dass es professionellen Agitatoren bei einem entprechend dummgeprägten Volkspotential zu diesem Vorwurf tatsächlich leicht fiel, Nietzsche bei selektivem Lesen als Rechtfertigungspotential für Eugenik auszubauen. Ich zitiere hierfür Nr. 2 aus Nietzsches Werk „Der Antichrist" von 1988:

Was ist gut? - Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.
Was ist schlecht? - Alles, was aus der Schwäche stammt.
Was ist Glück? - Das Gefühl davon, daß die Macht wächst, - daß ein Widerstand überwunden wird.
Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtu, moralinfreie Tugend).
Die Schwachen und Mißratnen sollen zugrunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.
Was ist schädlicher, als irgend ein Laster? - Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratnen und Schwachen - das Christentum ... „

Die Antwort, dass sich seine Aussage nicht auf die Eugenik bezieht, ergibt sich bereits aus dem Titel des Buches, in dem sie steht. Der Antichrist beschäftigt sich mit der Anklage gegen das Christentum und genau dieses klagt Nietzsche in Nr. 53 an, einem zu wünschenden „höheren Typus" Mensch im Wege zu stehen, in dem es diesem den Todkrieg erkläre, da versucht werde, das Böse aus den Lebensinstinkten heraus zu destillieren. Damit müsste sich dem hinterfragenden Geist bereits die Frage aufdrängen, was dies etwa mit der physischen Vernichtung von Leben zu tun haben solle. Der erste Hinweis, der Anklage Nietzsches folgend, führt meines Erachtens unweigerlich zu Nr. 17 von Antichrist. Dort werden die Schwachen definiert und es sind nicht die körperlich Gebrechlichen oder geistig Behinderten gemeint, sondern die vom Christentum Unterworfenen, die die Voraussetzungen des aufsteigenden Lebens, das Starke nämlich, das Herrische, das Tapfere, das Stolze aus ihrem Gott herausgenommen haben. In Nr. 16 meint er, dass man einen bösen Gott genau so nötig habe als den guten Gott, die widernatürliche Kastration des Gottesbegriffes führe zur Unterwerfung, zur Schwachheit. Die Schwachen nennen sich danach die Guten. Nietzsche sieht dies als Prozess des absteigenden Lebens und daraus die Notwendigkeit, dass eben diese sich dem christlichen Kanon unterordnenden Schwachen zugrunde gehen sollen.

Mit Untergehen meinte er auch die Befürwortung der Flucht zu einer Selbstmächtigkeit des Menschen, die ihn befähigen sollte, das christliche Duckmäusertum abzuschütteln.

Damit ist auch der Vorwurf entzaubert, Nietzsche habe Gedankengut zur Eugenik angedacht oder vorbereitet.

 

VII. Vorwurf an Nietzsche, er sei frauenfeindlich

 

Nietzsche, der Frauenfeind, der Antifeminist, woher kommt das eigentlich. Der Volksmund, der Stammtisch, der da paroliert: „Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht". Ja der Nietzsche, der hat das gesagt!, das weiß doch jeder. Mir fällt auf dass eigentlich fast niemand, mit denen ich darüber gesprochen habe, die tatsächlichen Begebenheiten darüber kennt, sondern allenfalls -bei sogenannten gebildeten Kreisen wundert mich das besonders- eine nur marginale, gar keine oder höchstens unreflektierte Hinterfragung erkennen lässt.

 

Dennoch sei festgestellt, Nietzsche bietet auf der nach oben hin offenen Richterskala der Ambivalenz Höchstwerte.

Dies zeigt sich auch darin, dass hinsichtlich der Peitschenmetapher keine eindeutige und festschreibende Interpretation möglich ist. Die Nietzscherezeption konnte sich über die vielen Jahre hinweg hierzu nicht abschließend erklären, so dass es verschiedene Sichtweisen gibt.

Innerhalb der Betrachtung -ich komme später bei der misogynen Interpretation darauf zurück- wird deutlich, welch fundamentale Bedeutung Nietzsche gerade auf die frauliche Emazipationsbewegung gehabt hat.

 

So ist ein Verständnis des Satzes „Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht" nur möglich, wenn man dies im Kontext zur Rede von alten und jungen Weiblein im dritten Teil des Zarathustra liest:

 

„Da entgegnete mir das alte Weiblein: "Vieles Artige sagte Zarathustra und sonderlich für Die, welche jung genug dazu sind. Seltsam ist's, Zarathustra kennt wenig die Weiber, und doch hat er über sie Recht! Geschieht diess desshalb, weil beim Weibe kein Ding unmöglich ist? Und nun nimm zum Danke eine kleine Wahrheit! Bin ich doch alt genug für sie!

Wickle sie ein und halte ihr den Mund: sonst schreit sie überlaut, diese kleine Wahrheit."

"Gieb mir, Weib, deine kleine Wahrheit!" sagte ich. Und also sprach das alte Weiblein:

"Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!"

 

"In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben: Gold sah ich in deinem Nacht-Auge blinken,—mein Herz stand still vor dieser Wollust:

— einen goldenen Kahn sah ich blinken auf mächtigen Gewässern, einen sinkenden, trinkenden, wieder winkenden goldenen Schaukel-Kahn!

Nach meinem Fusse, dem tanzwüthigen, warfst du einen Blick, einen lachenden fragenden schmelzenden Schaukel-Blick:

Zwei Mal nur regtest du deine Klapper mit kleinen Händen—da schaukelte schon mein Fuss vor Tanz-Wuth. —

Meine Fersen bäumten sich, meine Zehen horchten, dich zu verstehen: trägt doch der Tänzer sein Ohr—in seinen Zehen!

Zu dir hin sprang ich: da flohst du zurück vor meinem Sprunge; und gegen mich züngelte deines fliehenden fliegenden Haars Zunge!

Von dir weg sprang ich und von deinen Schlangen: da standst du schon, halbgewandt, das Auge voll Verlangen.

Mit krummen Blicken—lehrst du mich krumme Bahnen; auf krummen Bahnen lernt mein Fuss—Tücken!

Ich fürchte dich Nahe, ich liebe dich Ferne; deine Flucht lockt mich, dein Suchen stockt mich:—ich leide, aber was litt ich um dich nicht gerne!

Deren Kälte zündet, deren Hass verführt, deren Flucht bindet, deren Spott—rührt:

— wer hasste dich nicht, dich grosse Binderin, Umwinderin, Versucherin, Sucherin, Finderin! Wer liebte dich nicht, dich unschuldige, ungeduldige, windseilige, kindsäugige Sünderin!

Wohin ziehst du mich jetzt, du Ausbund und Unband? Und jetzt fliehst du mich wieder, du süsser Wildfang und Undank!

Ich tanze dir nach, ich folge dir auch auf geringer Spur. Wo bist du? Gieb mir die Hand! Oder einen Finger nur!

Hier sind Höhlen und Dickichte: wir werden uns verirren!— Halt! Steh still! Siehst du nicht Eulen und Fledermäuse schwirren?

Du Eule! Du Fledermaus! Du willst mich äffen? Wo sind wir? Von den Hunden lerntest du diess Heulen und Kläffen.

Du fletschest mich lieblich an mit weissen Zähnlein, deine bösen Augen springen gegen mich aus lockichtem Mähnlein!

Das ist ein Tanz über Stock und Stein: ich bin der Jäger,—willst du mein Hund oder meine Gemse sein?

Jetzt neben mir! Und geschwind, du boshafte Springerin! Jetzt hinauf! Und hinüber!— Wehe! Da fiel ich selber im Springen hin!

Oh sieh mich liegen, du Übermuth, und um Gnade flehn! Gerne möchte ich mit dir—lieblichere Pfade gehn!

— der Liebe Pfade durch stille bunte Büsche! Oder dort den See entlang: da schwimmen und tanzen Goldfische!

Du bist jetzt müde? Da drüben sind Schafe und Abendröthen: ist es nicht schön, zu schlafen, wenn Schäfer flöten?

Du bist so arg müde? Ich trage dich hin, lass nur die Arme sinken! Und hast du Durst,—ich hätte wohl Etwas, aber dein Mund will es nicht trinken! —

— Oh diese verfluchte flinke gelenke Schlange und Schlupf-Hexe! Wo bist du hin? Aber im Gesicht fühle ich von deiner Hand zwei Tupfen und rothe Klexe!

Ich bin es wahrlich müde, immer dein schafichter Schäfer zu sein! Du Hexe, habe ich dir bisher gesungen, nun sollst du mir—schrein!

Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir tanzen und schrein! Ich vergass doch die Peitsche nicht?— Nein!" —

2

Da antwortete mir das Leben also und hielt sich dabei die zierlichen Ohren zu:

"Oh Zarathustra! Klatsche doch nicht so fürchterlich mit deiner Peitsche! Du weisst es ja: Lärm mordet Gedanken,—und eben kommen mir so zärtliche Gedanken."

 

VII.1 meine Interpretation hierzu: Nietzsche dokumentierte die Unterordnung des Mannes unter die Frau

 

Als Dank an Zarathustra, dass dieser dem alten Weiblein mitteilte, was er über das „Weib" dachte, machte sie ihm eine kleine Wahrheit als Geschenk und sprach aus „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!''. Den Ausspruch hat also nicht Nietzsche zum Leser, sondern das Weiblein zu Zarathustra getan. Welches Wechselspiel hier von Nietzsche indendiert gewesen sein mag, scheint bis heute nicht völlig enträtselt zu sein.

Ich verstehe es so, dass es der Sinnwendung hin zu einer verstehenden Parodie bedarf, die auch nicht stringent zum betreffenden Thema in einer schriftstellerischen Fortfolge geboten wird, sondern die man suchen muss.

Der Tatsache, dass die Metapher im ersten Teil des Zarathustra steht, kommt eine besondere Bedeutung zu.

Es ist feststellbar, dass Nietzsche in seinen Einlassungen zu Frauen insbesondere im späteren Zarathustra eine rüder gefärbte Gangart einlegte.

Was hat sich in diesem Zeitraum zugetragen, was ist passiert?

Hierbei ist von wesentlicher Bedeutung, dass inhaltsmäßig durchaus eine Reflektion seines Lebens stattfand.

1882, dem Jahr der Fertigstellung des Werkes „Die fröhliche Wissenschaft" war für Nietzsche nach zwei Heiratsanträgen im Oktober dann auch das Jahr der Trennung von der geliebten Frau, Lou Andreas-Salome. Dies hat ihn in eine große Krise gestürzt.

 

Kurz nach der Ablehnung des zweiten Heiratsantrages kam es dann zum berühmt gewordenen Luzerner Fototermin, durchinszeniert von Nietzsche persönlich bis ins Detail. Diese Regieführung hat er Lou angeblich zäh abgerungen, die -wie sie später bekannte- sich dagegen wehrte. Genau diesem dort entstandenen Bild haben wir wohl das oft missverstandene und heute noch Rätsel aufgebende Sätzchen von der Peitsche zu verdanken.

Lou sitzt in einem hölzernen Leiterwagen und dabei ein mit einem Fliedersträußchen verziertes Peitschchen in der Hand, davor Nietzsche und Rèe im Geschirr eingespannt. Dem heutigen libertären Geschlechterverständnis entspringend, könnte man in diesem Bild Lou als Domina bezeichnen. Die beiden Männer könnte man als Unterworfene sehen. Freud hätte an der Deutung des Bildes wohl seine helle Freude. Just sind wir hier an der Stelle angelangt, an der dem Volksmund oder Stammtisch in der Argumentation vom peitschenschwingenden Mann, der die Peitsche zur Zähmung und Unterdrückung der Frau benötigt, der Argumentationsnährstoff vom Teller gezogen wird. Nietzsche verkehrt das Bild des Mannes mit der Peitsche ins Gegenteil, indem er der Frau das Instrumentarium gibt.

Stimmt diese Inszenierung eigentlich mit seiner eigenen lebensbezüglichen Situation überein, ich meine ja. Er selbst konnte sich schon innerhalb der Familie nicht von den starken Frauen, seiner Mutter und vor allem von seiner Schwester Elisabeth, abnabeln. Lou dürfte er sich ebenfalls, beginnend von der Schwärmerei, untergeordnet haben. Besonders wichtig ist auch der zeitliche Zusammenhang zum Bild. Nachdem Nietzsche seinem Freund Rèe das Bild zuschickte, versicherte ihm dieser für immer die Freundschaft mit der Bemerkung, dass sie ja einem Dritten verbunden wären, dem sie sich beide unterordnen würden. Rèe meinte damit Lou. Dies blieb von Nietzsche unwidersprochen. Dies könnte auch auf eine „Unterordnung unter das Weib" hindeuten.

Nachdem später im Oktober dann die endgültige Trennung von Rèe und Lou erfolgte, andererseits auch der Zwist mit Schwester und Mutter unüberbrückbar schien, widmete er sich wohl in seinem Schmerz mit seiner ganzen und letzten Kraft dem Zarathustra.

 

Hierin binden sich auch geäußerte Bemerkungen ein, er habe habe mit Blick auf den Übermenschen versucht, das Leben zu bejahen, sei aber gescheitert. Wer das Leben aber nicht bejahen könne, vermag es schaffend wenigstens zu ertragen.

Genau dieses „Schaffen" bescherte der Weltliteratur dann den ersten Teil des Zarathustra.

Die Metapher mit der Peitsche ist meines Erachtens in der literarischen Umsetzung nichts anderes wie das Leiterkarrenbildchen, nicht auf eine Unterwerfung der Frau, sondern auf eine Unterordnung des Mannes abzielend.

Diese Auffassung entspricht im weiteren Sinne der Selbstzuchtinterpretation, der Mann würde der Frau zur Zügelung seines Sexualtriebes die Bremse hierfür, versinnbildlicht durch die Peitsche, aushändigen.

 

VII.2 Interpretation Helene Stöcker in „Nietzsches Frauenfeindschaft", 1901 und Lisa B. Beyer in „Friedrich Nietzsche für jedermann und jedefrau", 1995: Die Peitschenmetapher ist eine Aufforderung an die Frau, sich aus dem Sklavenbewußtsein zu befreien

 

Im anderen Tanzlied wird das Spiel des Lebens mit Zarathustra beschrieben, sh „In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben".

Das Leben erscheint dem Zarathustra als Geliebte, als Frau. Sie spielen miteinander im zärtlichen neckischen Spiel, ein gegenseitiges Verfolgen, dem Tanz über Stock und Stein, die Erwähnung zärtlicher Worte „Wildfang". Durch dieses Spiel ist das Leben, die Frau, müde geworden, Zarathustra überlegt, wie er es/sie aktivieren kann, ihm fiel die Peitsche ein.

Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir tanzen und schrein! Ich vergass doch die Peitsche nicht?— Nein!" —

 

Die Peitsche als Versinnbildlichung eines Instrumentes zum Andrehen des Rad des Lebens, das Gegenteil des sich müde Hinlegens und Ertragens. Das Leben, die Frau, soll sich der Selbstmächtigkeit besinnen und sich des Sklaventums befreien.

 

Möglicherweise weist er versteckt in der Rede „Vom Freunde" auf die Sklavenlethargie der Frau zum Ende seines Jahrhunderts hin:

„Allzu lange war im Weibe ein Sklave und Tyrann versteckt. Deshalb ist das Weib noch nicht zur Freundschaft fähig, es kennt nur die Liebe" Noch ist das Weib nicht zur Freundschaft fähig"

 

Genauso werden aber dabei die Männer kritisiert, denen er die gleiche Frage stellt:

„Aber sagt mir, ihr Männer, wer von euch ist denn fähig zur Freundschaft?"

Die Klagen Zarathustras über die menschliche Schwächen treffen Frauen und Männer gleichermaßen.

 

Auch Lisa Beyer (Seite 154„Friedrich Nietzsche für jedermann und jedefrau", 1995 ) sieht es so, dass die Peitsche nicht zum Züchtigen gedacht ist, sondern zum Tanzen.

 

Stöcker sieht in der Eingrenzung durch die Formulierung „noch nicht zur Freundschaft fähig" das Versprechen des Mannes, sich der Frau in innigster Freundschaft dann anzunähern, sollte sie sich aus der Sklavenrolle befreit haben (Seite 70 „Nietzsches Frauenfeindschaft", 1901)

 

VII.3) misogyne (frauenfeindliche) Interpretation, was hat Nietzsche mit Emanzipation zu tun

 

Diese von einigen vertretene Variante, Nietzsche hätte damit seine Misogynie, Frauenfeindschaft, zum Ausdruck gebracht und dokumentieren wollen, dass Frauen immer versuchen, „Männer vor ihren Karren zu spannen, scheint mir nicht zu greifen. Nicht nur, dass er durchaus von der überragenden geistigen Tiefe einer Lou angetan war, stellte er doch auch im Werk Menschliches, Allzumenschliches im Siebenten Hauptstück über Weib und Kind in Nummer 377 fest:

Das vollkommene Weib.— Das vollkommene Weib ist ein höherer Typus des Menschen, als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres"

In der Schöpfungsphase des Zarathustra entstand „Der Antichrist - Fluch auf das Christentum-„, in dem er im Kapitel 55 in einer merkwürdig anmutenden Schwärmerei für das Gesetzbuch des Manu eine Verbindung zwischen Frauen und Zärtlichkeit herstellt, er führt aus:

„ Ich kenne kein Buch, wo dem Weibe so viel zarte und gütige Dinge gesagt würden, wie im Gesetzbuch des Manu; diese alten Graubärte und Heiligen haben eine Art, gegen Frauen artig zu sein, die vielleicht nicht übertroffen ist"

Ich denke, dass Nietzsche hier versteckt ein Ideal aufbaut, mit Frauen umzugehen, dem er sich im eigenen Leben selbst nie annähern konnte.

Einer der wichtigsten Punkte, die den „Es-sich-Leichtmachenden, die Nietzsche heute noch als Frauenhasser sehen wollen, die Plattform entzieht, ist sein Eintreten für die Promotion von Frauen an der Universität Basel im Jahre 1874. Als Professor an der Fakultät Basel wurde im Juli 1874 darüber abgestimmt, ob man Frauen zur Promotion zulassen solle. Während der damals schon hochgelobte Jacob Burckhardt mit 5 weiteren Abstimmenden dagegen aussprach, befürwortete Nietzsche das Recht der Frauen auf Promotion. Die Befürworter unterlagen mit 4 Ja-Stimmen den 6 Nein-Stimmen.

Wie gesagt, diese emanzipatorische Einstellung Nietzsches, die nun wirklich das tatsächliche Leben darstellt, kommt nicht von ungefähr. Wie hätte er auch tatsächlich Frauenfeind sein können, bei dem Frauenprofil, welches den ihn umgebenden Frauen seiner Wahl zugeordnet war. Ich meine damit nicht seine Mutter oder seine Schwester, dazu hatte er ja keine Wahl, da versuchte er sich ja nur zu arrangieren. Ich meine damit in erster Linie Lou Salomè. Sie war ein geradezu typischer –nicht beeinflussbarer Freigeist. Gerade bei Lou wäre es nie zu tiefgreifendem Gedankenaustausch gekommen, sollte er sich ihr gegenüber frauenfeindlich geäußert haben.

Bei diesem Betrachtungsansatz kommt zutage, dass Nietzsche gerade vielen Frauen in den Anfängen der Emanzipationsbewegung die Initialzündung gegeben hat, an erster Stelle ist hier Helene Stöcker anzuführen. Mit vielen anderen Frauen, es waren mehr Frauen als Männer, führte er philosophische Gespräche. Carol Diethe legt im Buch „Nietzsche und die Frauen. Vergiß die Peitsche" dar, dass gerade frühemanzipatorische intellektuelle Schriftstellerinnen, die eben vielfach auch in ihren Werken für Frauenrechte eintraten, sich in ihrem Denken zu großen Teilen mit Nietzsche identifizierten.

 

Es waren etwa:

Hedwig Dohm (Großmutter von Katja Mann, Führerin der bürgerlichen Frauenbewegung, „Die wissenschaftliche Emanzipation der Frau"), Meta von Salis, Malwida von Meysenburg (1816-1903, trat für die Emanzipation der Frau, für Bildung und Beruf ein), Ellen Key, Käthe Schirrmacher, Rosa Mayreder, Franziska, Gräfin zu Reventlow (1871-1918 hat die seinerzeitige Sexualmoral abgelehnt, „Das Männerphantom der Frau), Gabriele Reuter, Riccarda Huch, Grethe Meisel-Heß, Ruth Brè, Sophie Hoechstetter, Ina von Miaskowski, Resa von Schirnhofer, Laura Marholm und Lili Braun. Die bedeutendste Frau scheint mir jedoch Helene Stöcker (1869-1943) zu sein.

 

Anhand ihres eindrucksvollen Lebens darf Sie ohne Abstriche als die Alice Schwarzer der „Goldenen Zwanziger Jahre" bezeichnet werden. Ab dem ersten Jahr des Frauenstudiums in Deutschland, Promotion war noch nicht möglich) studierte sie von 1896 bis 1899 Philosophie und Literaturgeschichte, um 1901 in der Schweiz zu promovieren. Sie war eine der wenigen Philosophinnen, die nicht nur Gedanken auf Papier hinterlassen haben, sondern auch eine praktische Lebensphilosophie entworfen haben. Ihre monumentale geistige Hinterlassenschaft hier aufzuarbeiten würde den Rahmen sprengen, siehe deshalb Annegret Stopcyk-Pfundstein,"Helene Stöcker, Philosophin der Liebe). Sie gründete den Bund für Mutterschutz und Sexualreform, gründete Heime für Schwangere und ledige Mütter, war Herausgeberin verschiedener Frauenzeitschriften, sprach sich als überzeugte Pazifistin während des Ersten Weltkrieges gegen den Krieg aus und war 1919 Mitbegründerin des Bundes der Kriegsdienstgegner. Dies zu einer Zeit in der sich viele Philosophen neutral oder sogar kriegsverherrlichend äußerten. Sie setzte sich für die Gleichberechtigung unehelicher Kinder und von Mann und Frau ein und war eine Vorkämpferin gegen den § 218 STGB). Sie wurde gefeiert und geächtet zugleich und musste 1933 emigrieren.

Ich würde es mir nicht anmaßen, eine solche Frau des Irrtums zu bezichtigen, die in ihrem Buch „Die Liebe und die Frauen, Seite 69" Nietzsches angedichtete Frauenfeindschaft wie folgt dementierte:

„ Schließlich hat auch dieser subjektivste aller Philosophen so ernst und wundervolle Worte über Liebe und Ehe gesprochen, dass wir froh sein dürften, wenn alle Männer solche „Frauenfeinde" wären"

 

Noch als Siebzigjährige schrieb sie über Nietzsche:

„Keinem anderen Geist unter den Lebenden fühle ich mich so tief verbunden."

 

Damit komme ich zum Kernpunkt, Helene Stöcker erkannte bereits sehr früh das immense oppositionelle Potential Nietzsches, welches einen Einbruch tradierter Bildungs- und Wissenschaftsstrukturen zum Ziel hatte. Sie sah sich in ihrem eigenen Kampfe um Anliegen der Frauen reflektiert. Nietzsches Umwertung der Werte sah sie wohl als schmetterndes Fanfarensignal, einen Brausewind, der die Mauern des verkrusteten Denkens zum Einsturz bringen sollte. Sie zeigte sich Nietzsche, den sie nur einmal in seiner schon eingetretenen geistigen Umnachtung anlässlich eines Besuches bei seiner Schwester gesehen hat, dankbar, dass er in seinem Angriff auf die asketische Moral der christlichen Theologie die lebensbejahenden Werte stärkt und dadurch die Liebe der Geschlechter aus dem christlichen Bewertungssumpf des Niederen und Unreinen hinaushebt. Jedoch nicht nur Nietzsches Umwertung aller Werte hat sie in der Frauensache zur eigenen Angelegenheit gemacht, auch aus Zarathustra hat sie Kraft geschöpft. So wie Zarathustra eines Tages nach langer langer Zeit seine Höhle verlassen hat, so hat sie im übertragenen Sinne mit ihrer praktischen Philosophie dazu beigetragen, dass die Frauen ihr Dasein anders begriffen haben, die Frauenbewegung sich aus der Höhle der Zeit auf den Weg gemacht hat. Helene Stöcker, die in der ewigen Ruhmeshalle der deutschen Frauenbewegung ihren Platz gefunden hat, sah sich in der Umsetzung auch vieler Ideen von Nietzsche bestätigt, tradierte Werte der patriarchalischen Gesellschaft hinsichtlich der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern aufzutauen.

 

Ich meine:

Für die Vertreter der Spezies, die Nietzsche zum Frauenfeind deklarieren, muss es nachgerade eine ihre Argumentationsplatüden sturmreif schießende Breitseite bedeuten, soweit ich unwiderlegbar in den argumentativen Raum stelle, der weibliche Emanzipationsprozess hätte ohne sein Gebilde der „Umwertung aller Werte" wesentlich länger gedauert.

 

VIII. Vorwurf an Nietzsche, er sei der Mörder Gottes gewesen

 

Am Morgen des Tages, an dem ich beschloss, mich dieses Vorwurfes an Nietzsche zu widmen, las ich in der Unterführung eines Bahnhofes den Graffity-Spruch „ Nicht Gott ist tot, sondern Nietzsche ist tot“. Man wirft Nieztsche damit posthum vor, der Mörder Gottes zu sein. Weit gefehlt, Nietzsche war nicht der primus movens, der erste Beweger für den Tod Gottes, sondern nur der Diagnostiker, wobei seine Diagnose im Kontext seiner Werke zu sehen ist.

 

VIII.1) Aphorismus 108 Fröhliche Wissenschaft -3. Buch-, 1882, Diagnose des Todes Gottes

Mich verwundert in der Nietzscherezeption zu der Gott-ist-Tot Erklärung die immer gleichlautende Verweisung auf die angeblichst wichtigste Stelle, den Aphorismus 125 in „Fröhliche Wissenschaft“. In Aphorismus 108 im Dritten Buch der 1882 erschienenen „Fröhlichen Wissenschaft“ erklärt er kurz und knackig den Tod Gottes.

 

„Neue Kämpfe.-Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer Höhle,- so einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt.- Und wir - wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“

 

Worin 108 über 125 hinausgeht, ist der Ausblick auf die Wirkungen des Todes Gottes. Nietzsches Diagnose beinhaltet das Grundgefühl, dass es sich um etwas sehr mächtiges gehandelt haben muss, dass es vielleicht noch Jahrtausende dauern wird, bis der letzte Schatten eines Gotteswissens oder Gottesbewusstseins aus den Köpfen der Menschen verbannt sein wird. Nietzsche verkündet hier aber nichts, deshalb kommt 108 nur der Wert einer Feststellung zu.

 

VIII.2 Aphorismus 125 Fröhliche Wissenschaft -3. Buch-, 1882, Verkündung des Todes Gottes,und Ausstellung des Totenscheins

 

Darin lässt er seinen „tollen Menschen“ am hellen Tage auf dem Marktplatz erscheinen, um mit einer Laterne nach Gott zu leuchten:

 

„Der tolle Mensch. - Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: "ich suche Gott! Ich suche Gott!" - Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? - so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. "Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, - ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, - wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, - und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" - Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. "Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert, - es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, - und doch haben sie dieselbe gethan!" - Man erzählt noch, daß der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: "Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?" -

 

Welche Inszenierung steht eigentlich dahinter, frage ich mich, weshalb wurde gerade der Marktplatz gewählt?

Nun der Marktplatz ist der Platz der Öffentlichkeit, wo alles feilgeboten wird, wo sinnbildlich alle Gottessuchenden aller Fraktionen unterwegs sind. Somit auch die Stelle, wo Gott wegen der Pluralität, die der Marktplatz reflektiert, am leichtesten zu finden ist. Sollte Gott deshalb auf dem Marktplatz nicht zu finden sein, braucht man also auch woanders nicht zu suchen. Also suchte der tolle Mensch den Gott nicht in den Kirchen, den Grüften Gottes, sondern auf dem Marktplatz.

Gott, dieses große Ereignis, gut, edel, schöpfend, allweise, allerbarmend, einzig, weshalb konnte er es nicht orten. Allegorisch versah Nietzsche den tollen Menschen sogar noch mit einer Laterne, um den Fokus seiner Suche am hellen Tage zu verstärken.

 

Die Suche nach etwas einstig Großem, welches der Größe gemäß eigentlich von jedem gesehen werden müsste, war trotz Laterne vergeblich. Der tolle Mensch fand nur das Nichts, den leeren Raum.

 

Zunächst erfahren wir von der Figur des „tollen Menschen“, dass Gott von „Allen“ getötet wurde. Die Frage, wie dies gemacht wurde, bleibt in der Fröhlichen Wissenschaft offen, man muss es selbst herausinterpretieren. Er ließ aber durch die Fragestellung erkennen, dass wohl nicht mit einem Schwamm in einem Moment der ganze religiöse Horizont weggewischt wurde. Vielmehr sei davon auszugehen, dass dies das Ergebnis eines langen Prozesses war. Aphorismus 343 bietet den Ansatz, dass der Tod durch Unglaubwürdigkeit des Gottes eingetreten ist.

Von Bedeutung sehe ich auch die apodiktische Setzung einer brachialen Unabänderlichkeitskonstanten, nämlich, dass er tot sei und dieses auch bleibe. Nietzsche bleibt sich meines Erachtens hierzu auch treu, den Figuren des ein Jahr später erschíenenen Zarathustra verbleibt nur noch die Replik auf den schon in der Vergangenheit liegenden Tod des Gottes. Dies begründe ich mit folgenden Passagen des Zarathustra:

 

Vorrede Nr.2 letzter Absatz:

„Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch nichts davon gehört, dass Gott tot ist“

Vorrede Nr. 3:

„Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb.....“

 

Von den Hinterweltlern:

„Ach ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf, war Menschenwerk...“

 

Ausser Dienst (Gespräch zwischen dem letzten Papst und Zarathustra)

„Was weiß heute alle Welt? fragte Zarathustra. Etwa dies, dass der alte Gott nicht mehr lebt, an den alle Welt einst geglaubt hat ?“Du sagst es, antwortete der alte Mann betrübt. Und ich diente diesem alten Gott bis zu seiner letzten Stunde.“

 

VIII.2.a Vorwurf des Nihilismus

 

Der von Nietzsche genannte „leere Raum“, der anhaucht, wurde ihm so angelastet, als habe er dadurch den Keim zu einem europäischen Nihilismus gelegt. Mit dem Gedanken kann ich mich aber auch nicht anfreunden, im Gegenteil. Dies wissen wir spätestens seit Zarathustra, wo einer Absage an die Metaphysik die uneingeschränkte Bejahung des diesseitigen Lebens gegenübersteht. Was aber mit einer so epochalen Wortführung lebensbejahend ist, kann unmöglich nihilistisch sein.

Nietzsche musste den christlichen Eschatologen zwangsläufig wie der leibliche Satan vorgekommen sein, zerstörte er doch ihr Leidens- und Weltuntergangsbild mit seiner uneingeschränkten Zukunftsgläubigkeit. Dem beklagenden Weltbild Schopenhauers setzte er in der Fröhlichen Wissenschaft zunächst den tollen Menschen entgegen, der mit der Verkündung des Todes Gottes auch die Umwertung der bisherigen Werte einforderte.

 

VIII.2.b Wie stellte sich Nietzsche die Tröstung über den Tod Gottes vor?

 

Der tolle Mensch gab auf die gestellte Frage, wie man sich über den Tod Gottes trösten wolle, zu erkennen, dass er noch nicht an der Zeit sei, das ungeheure Ereignis sei noch nicht bis zu den Ohren der Menschen vorgedrungen. Er merkte lediglich an, zurückkommen, wenn es an der Zeit sei, dies könne (sh 108) aber noch sehr lange dauern. Sobald sich die Menschen über das Vakuum dann bewusst sind, werde jemand anderes die Stelle der vakanten Gottesstelle besetzen.

Nietzsche hat diesen Gedanken offensichtlich in „Zarathustra“ dann ein Jahr später 1883 fortgeführt, der tolle Mensch war etwa der Vorläufer des Zarathustra, in dem dann der Gedanke aufkommt, dass der Übermensch die unbesetzte Gottesstelle besetzt.

VIII.2.c Was war eigentlich tot, Gott als Person, als Glaube, als Weltbild, Gott als Idee?

 

So, Gott war für den tollen Menschen also nicht auffindbar, dies bedeutete aber nicht unbedingt einen Kontext mit der Lebenswirklichkeit zum Ende des 19. Jahrhunderts, im Gegenteil.

Insofern zeitigten die ersten mutigen Ansätze der Aufklärungszeit keine große Ernte, der Reichsdeputationshauptschluss unter Napoleon 1803 wurde in der Restauration rückgängig gemacht, die Bettgenossenschaft zwischen Staat und Kirche wurde wiederhergestellt und war stärker denn je, Bemühungen der Späthegelianer zeigten noch keine Wirkungen.

Die Menschen waren eingebunden in eine nach wie vor stark konservativ-christlich geprägte Religionserziehung. Junge Menschen wurden auch ausserhalb der Schule zum Besuch der sogenannten Christenlehre gezwungen. Kinder wurden indoktriniert mit dem ganzen Arsenal der zur Verfügung stehenden placebos wie Jenseits, jenseitiges Himmelreich, jüngstes Gericht, jüngster Tag, Ewigkeit, Sünde, Beichte, Buße, letzte Ölung, Auferstehung der Toten, Fegefeuer und den sonstigen Begriffsgespenstern und Scheinwelten. Die herrschende christliche Moral verdammte ledige Mütter, das Zusammenleben ohne Trauschein, Priester segneten Kanonen, die Kirche mit ihren Zwergen beherrschte die ganze gesellschaftliche Bandbreite. Also insofern könnte man Nietzsche kritisieren, dass seine „Gott ist tot“ Erklärung wohl Wunschtraum statt Lebenswirklichkeit seiner Epoche war.

Tot war also nicht Gott als Schöpfer des scheinbaren Glaubens, den der Mensch im anthropologischen Prozess als Medizin brauchte und anscheinend noch immer braucht, um die Gewissheit des Todes zu überwinden.

 

Nietzsche hat die noch bestehende Macht des religiösen Instinkts dann 4 Jahre in seinem 1886 erschienenen Werk „Jenseits von Gut und Böse“ zugegeben und dies im Dritten Hauptstück im letzten Satz des Aphorismus 53 über die Diagnose des aufgekommenen Atheismus beschrieben:

 

„Warum heute Atheismus? - "Der Vater" in Gott ist gründlich widerlegt; ebenso "der Richter", "der Belohner". Insgleichen sein "freier Wille": er hört nicht, - und wenn er hörte, wüsste er trotzdem nicht zu helfen. Das Schlimmste ist: er scheint unfähig, sich deutlich mitzutheilen: ist er unklar? - Dies ist es, was ich, als Ursachen für den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe; es scheint mir, daß zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist, - daß er aber gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Mißtrauen ablehnt.“

 

Tot war aber Gott als Schöpfer der Imperative, der 10 Gebote, die sich als nutzlos und fruchtlos erwiesen haben, damit ist auch die unglaubwürdig gewordene Idee Gottes gestorben.

 

Nachdem der tolle Mensch trotz Laterne nur den leeren Raum fand, stellte er fest, dass die Idee des Gottes durchaus noch in den Köpfen der Menschen vorhanden war, die dafür sorgten, dass die äußere Hülle noch gepflegt wurde, während die Substanz aus Nietzsches Sicht bereits verrottet, verwest war.

 

Ich möchte dies so beschreiben:

Ein einstmals im ständigen Gebrauch gewesenes Weinfass wurde ausgetrunken. Im nächsten Herbst fand keine Weinlese mehr statt, das Fass wurde nicht wieder befüllt. Das Fass selbst stand da, leer und unnütz. Mit der Zeit konnte sich fast niemand mehr erinnern, zu welchem Zweck das Fass gedient hatte. Es erweckt nur noch den Schein des ehemaligen eigentlichen Zweckes.

 

So erging es laut Nietzsche den Geboten Gottes, den Imperativen des Mosesbuches. Genau auf diese Weise ist auch Gott unglaubwürdig geworden. Nietzsche hat mit der „Gott-ist-Tot“-Erklärung auch die Theodizeefrage zu einem Abschluss gebracht. Die Nutzlosigkeit und Unglaubwürdigkeit der 10 Gebote stand im Konsens damit, dass es weder einen allmächtigen, noch einen guten Gott gibt.

 

Wie bereits gesagt, die Menschen leben aber immer noch im Zeitalter der Postkanonisierung des „Du sollst“. Erst der Übermensch wird nicht mehr Empfänger der imperativen Gebote Gottes sein, sondern er wird in der Lage sein, das „Du sollst“ durch ein „Ich will“ zu ersetzen. Erst er wird aufgrund seiner Selbstmächtigkeit den Sinn der Erde begreifen können. Bis dahin leben die Menschen weiter in ihren imaginären Scheinwelten und verehren selbstkonstruierte Begriffsgespenster. Das meinte er damit, dass das ungeheure Ereignis noch unterwegs sei und in den Köpfen der Menschen noch nicht angekommen ist.

 

VIII.3. Aphorismus 343 Fröhliche Wissenschaft -5. Buch-, 1882, Auswirkungen des Todes Gottes, fürchterliche politische Prophetie für die kommenden Stahlgewitter 1914 und 1939

 

„Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat. - Das größte neuere Ereignis, - daß "Gott todt ist", daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen.

Für die Wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgend eine Sonne untergegangen, irgend ein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsre alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder, "älter" scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen: das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt heißen dürfte; geschweige denn, daß Viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat - und was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriethe heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat? ... Selbst wir geborenen Räthselrather, die wir gleichsam auf den Bergen warten, zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die Schatten, welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten: woran liegt es doch, daß selbst wir ohne rechte Theilnahme für diese Verdüsterung, vor Allem ohne Sorge und Furcht für uns ihrem Heraufkommen entgegensehn? Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den nächsten Folgen dieses Ereignisses - und diese nächsten Folgen, seine Folgen für uns sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenröthe... In der That, wir Philosophen und "freien Geister" fühlen uns bei der Nachricht, daß der "alte Gott todt" ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, - endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so "offnes Meer". -„

 

VIII.4 Was war Nietzsche eigentlich, Atheist, Agnostiker oder das Gegenteil?

 

In der Reihenfolge seiner Werke verkündet der tolle Mensch den Tod Gottes, dies bedeutet, dass er als Idee existiert hat, denn der Tod setzt die vorherige gedankliche Existenz voraus. Nicht zwingend vorausgesetzt wird jedoch, dass er auch für Nietzsche existiert hat. Hier setzten aber gerade bestimmte christliche Apologeten, die Nietzsches Erklärung überhaupt nicht akzeptieren können, an. Für sie ist es untragbar blasphemisch, wenn ein Mensch eine solche Aussage trifft. Zu ihrer eigenen Beruhigung versuchen sie nun, Nietzsche in eine Ecke abzudrängen, es sei gerade seine besondere Art gewesen, seinen Weg zu Gott zu finden. Andere vertreten die Auffassung, er habe nur darlegen wollen, zu welchen Konsequenzen der Tod Gottes führen würde. Da sie auf die verkündete Unglaubwürdigkeit Gottes keine Antwort mehr wissen, wird Nietzsche einfach zu einem Pseudogläubigen umfunktioniert.

Das funktioniert aber nur oberflächlich, der ernstgenommene Versuch muss kläglich scheitern.

Hier müssen wir auf Aphorismus 53 „Jenseits von Gut und Böse, 1886“ zurückkommen.

 

Es fällt auf, dass Nietzsche nicht sagt, dass es keinen Gott gibt, vielmehr scheint er unfähig, sich mitzuteilen. Diese Unfähigkeit, sich mitzuteilen, hat er als Ursache für den Niedergang des europäischen Theismus ausgemacht. Diese Passage lässt vielleicht eher auf einen agnostisch gestimmten Nietzsche schließen, da er ja offen lässt, ob Gott sich erfolgreich mitteilen könnte, sollte er dies wollen. Weshalb sollte es aus der Sicht Nietzsches schlimm sein, frage ich mich, sollte das Gotteskonstrukt in seiner Unfähigkeit zur Mitteilung verharren. Die Beantwortung bleibt er mir schuldig, so dass ich nur darüber rätseln kann.

 

1888 wird er im „Antichrist“ sehr deutlich, wo er unter Nr. 15 Gott als imaginäre Ursache bezeichnet. Äußerst interessant ist seine brachiale Anklage gegen das Christentum, insbesondere unter Nummer 62 und die Erkenntnis, dass im ganzen Werk nicht ein Mal das Wort Atheismus fällt. Nietzsche trennt wohl schon bewusst zwischen Gott und Christentum. Dabei lässt er jedenfalls auch eine Präferenz zum forschen und rachsüchtigen alttestamentlichen Gottesverständnis gegenüber dem Gottesbild des Christentums erkennen.

In der kurz darauf im November 1888 erschienenen Götzendämmerung bezeichnete er unter Nr 6 im Kapitel „Die vier großen Irrtümer“ den ganzen Bereich der Moral und der Religion als zu den imaginären Ursachen gehörend.

 

Also gehen wir weiter auf den Nietzsche Spuren und finden die Erklärung nun definitiv ein Jahr später. 1889 ist das Jahr der Fertigstellung des Druckmanuskripts zu „Ecce homo, Wie man wird, was man ist“, welches dann erst im Jahre 1908 erschienen ist. Dieses Werk liefert dann im Kapitel „Warum ich so klug bin“ unter Nr. 1 die Lösung, hier bekennt er sich als instinktmäßigen Atheisten, von Kindesbeinen an.

 

„- "Gott", "Unsterblichkeit der Seele", "Erlösung", "Jenseits" lauter Begriffe, denen ich keine Aufmerksamkeit, auch keine Zeit geschenkt habe, selbst als Kind nicht, - ich war vielleicht nie kindlich genug dazu? - Ich kenne den Atheismus durchaus nicht als Ergebniss, noch weniger als Ereigniss: er versteht sich bei mir aus Instinkt. Ich bin zu neugierig, zu fragwürdig, zu übermüthig, um mir eine faustgrobe Antwort gefallen zu lassen. Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelicatesse gegen uns Denker -, im Grunde sogar bloss ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!“

 

In der Betrachtung der „Morgenröte“ in Ecce homo beschrieb er unter Nr. 2, dass der Begriff Gott ein Lügenbegriff sei.„Welchen Sinn haben jene Lügenbegriffe, die Hülfsbegriffe der Moral, "Seele", "Geist", "freier Wille", "Gott", wenn nicht den, die Menschheit physiologisch zu ruiniren? .“

 

Nietzsche bekennt in vielen Werken, dass der Begriff Gott geschaffen, erfunden wurde, man muss nur danach suchen. Insofern meine ich, könnte man auch sagen, dass Gott das Werk von Gottesmachern ist.

 

In der Rede von den Hinterweltlern wird Zarathustra unmissverständlich:

 

„Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf, war Menschen-Werk und-Wahnsinn, gleich allen Göttern“

 

In 19 Antichrist fragt sich Nietzsche verwundert, weshalb die Rassen des nördlichen Europas den christlichen Gott nicht von sich gestoßen haben:

 

„Mit so einer solchen krankhaften und altersschwachen Ausgeburt der dècadence hätten sie fertig werden müssen. Aber es liegt ein Fluch dafür auf ihnen, dass sie nicht mit ihm fertig geworden sind: sie haben die Krankheit, das Alter, den Widerspruch in alle ihre Instinkte aufgenommen, - sie haben seither keinen Gott mehr geschaffen! Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott!

In 23 Antichrist schließlich der Hinweis „Es galt eine Religion zu erfinden, in der geliebt werden kann“

Dann in Ecce homo zum Schluss „Warum ich ein Schicksal bin“ unter Nr. 8 wieder die Anspielung, dass der Begriff Gott als Gegensatzbegriff zum Leben „erfunden“ wurde, dies als Fortführung der im Zarathustra getroffenen Feststellung, dass Gott Menschenwerk war.

Somit dürfte es eindeutig sein, dass Nietzsche nicht Agnostiker, sondern Atheist war. Dennoch stellen wir eine leichte Präferenz zum Buddhismus fest.

In Nr. 20 Antichrist stellt er fest, dass er mit seiner Verurteilung gegenüber dem Christentum kein Unrecht gegenüber dem Buddhismus begehen wolle, den er wegen der Diesseitsbejahung jenseits von Gut und Böse angesiedelt sah. Er begrüßte das Fehlen des Gebetes und er Sünde. Er bezeichnete den Buddhismus als hundertmal realistischer als das Christentum und als die einzige positivistische Religion. In 21 meint er, der Buddhismus sei keine Religion, in der man bloß auf Vollkommenheit aspiriere: das vollkommene sei bereits der normale Fall.

 

Zusammenfassung:

 

In Aphorismus 108 der Fröhlichen Wissenschaft wird der Tod Gottes diagnostiziert, in 125 wird er verkündet und in 343 werden die auf Europa zukommenden künftigen Schatten prognostiziert. Der Tod eines von den Menschen erfundenen guten und allmächtigen Gottes ist dadurch eingetreten, da die einstmals die Idee ausfüllenden und ihr zugrundeliegenden Imperative durch deren Nichtbeachtung unglaubwürdig wurden und einen leeren Raum hinterließen. Dessen ungeachtet würde nach Nietzsche die einstige Idee des Gottes als Scheinkonstruktion noch eine ungewisse Zeit in den Köpfen der Menschen weiterleben.

 

IX. Schlusswort

 

Das Bild der Unwissenden oder der nicht Wahr-Haben-Wollenden scheint mir -soweit es die von mir angesprochenen Fragen betrifft- damit widerlegt zu sein. An dieser Stelle ist es nochmals notwendig, die Anfangsfrage zu wiederholen, wieso gelang es, Nietzsche zu instrumentalisieren.

Nietzsche selbst liefert die Erklärung bereits vorab in Nr. 26 der „Genealogie der Moral" und „Götzendämmerung-Was den Deutschen abgeht-„. Verödung, Verdummung und Verflachung des Geistes sind die Ingredenzien für das giftige Gebräu.

Die Antwort liegt auf der Hand, weil damals die Stulti, die Dummen und Unwissenden, die Bevölkerungsmehrheit bildeten, so wie heute auch; daran ändern auch die Segnungen der modernen Kommunikations- und Informationsgesellschaft nichts oder gerade auch, aber eher noch mehr zum Negativen hin. Viele andere, die es hätten wissen müssen und auch gewusst haben, wie einseitig selektiv und verkürzt Nietzsche wiedergegeben wurde, haben geschwiegen. Das Schweigen, Zuschauen, sich Bedeckt-Zeigen, meistens aus eigennützigen Gründen, ist wohl auch ein Wesenszug des Menschen. Dieser Wesenszug ist auch dafür verantwortlich, dass immer wieder wenige Ausnahmemenschen viele Herdenmenschen ins Unglück stürzen können.

Es wird nie gelingen, die heutigen Apologeten einer Nietzsche-Inquisition zu überzeugen, dazu sind sie viel zu ideologisiert, aber sie müssen es sich gefallen lassen, dass man ihnen widerspricht.