Rudi Kölmel, 10.10.2010

Marcuse, Kritik

Marcuse hat in seinem1964 /1967 erschienenen Werk „Der eindimensionaleMensch“ zur großen Verweigerung gegenüber der von der Industriegesellschaft eingeschlagenen „Marschrichtung“ aufgerufen, die seines Erachtens das Ziel hat, die Fähigkeit zur Opposition und individuellen Freiheit zu assimilieren. Er klagte dabei die Modernität und die Bürokratisierung an, den Menschen zur besseren Lenkbarkeit in die Eindimensionalität führen zu wollen. Seine Gedanken zur Triebstruktur, Kultur und Kunst sind für mich wenig berührend. Das abgedroschene Thema von Armut und Reichtum und dem Ausgleich davon bietet auch nichts Neues.

Interessant ist für mich vielmehr seine Sicht, welchen Einfluss er der Technik und der Entstehung und Befriedigung menschlicher Konsumbedürfnisse im kapitalistischen System zuschreibt.

Hierbei entsteht bei mir der Beigeschmack, dass der marxismusverliebte Marcuse die kritische Betrachtung eben doch einseitig kapitalismusfeindlich anstellt. Dies verwundert etwas.

Trotz seines Kapitalismusgeschwafels waren ihm die amerikanischen vollen Suppentöpfe und das in den USA regelmäßig überwiesene „kapitalistische“ Professorengehalt doch wesentlich genehmer als die nur halbvollen spätmarxistischen Suppentöpfe von Ullbricht und die Aussicht auf wöchentliches Training von Handgranantenweitwurf. Deshalb wollte er es wohl Brecht nicht nachmachen und hat von einer Übersiedlung in die damalige DDR abgesehen. Gar nicht dumm, der Junge.

Doch zurück. Die moderne Gesellschaft als „totalitär“ zu bezeichnen, würde ich ablehnen, obwohl immer häufiger der Eindruck entsteht „demokratisch gewählt - diktatorisch durchgeführt“.

In einem gebe ich ihm recht, nämlich im Vorliegen einer „nicht-terroristischen ökonomisch-technischen Gleichschaltung“.

Ich sehe es so, dass eine Bettgenossenschaft von Produzenten und medialen Großlandschaften unter Zuhilfenahme von immer neueren und ausgefeilteren Tools (Werbung, Konsumforschungsgesellschaften, Medien, Internet, ungezügelter und trunkenboldiger Informationskonsum, ausgefeilte Dummprägungsplattformen im Fernsehen) die Menschen in eine „kollektive Verhausschweinung und geistige Vermopsung“ führen wollen.

Ich nenne es das „Kollektiv“, eine Art lebendes Wesen mit einer globalen Botschaft. Diese Botschaft läuft darauf hinaus, beim Subjekt zu implementieren, der Konsum des Dargebotenen sei bereits Lebensgrundlage, wie Essen, Trinken und Schlafen und ohne diesen Konsum sei keine Autonomie des Selbst mehr möglich. Die Ausrichtung des menschlichen Lebens wird dadurch technomorph, also technisch ausgerichtet.

Hierzu fällt mir ein unendlich trauriges und krasses Beispiel ein. Eines dieser Dummispiele, World of Warcraft, führte bei einem Ehepaar dazu, dass sie vor lauter Spielsucht ihr Baby nicht mehr versorgten und sterben ließen.

Kann dieser Prozess noch gebremst werden. Eindeutig ja. Die Technik ist ein globales Phänomen und setzt keine Ziele nach dem Motto „ Ich Technik will jetzt die Pluralität des Menschen zur Eindimensionalität hin eindampfen“, sondern der Mensch ist derjenige, der die Ziele setzt. Das „kluge Tier“ ist der primus movens das „will“.

Nur der Mensch kann sich selbst in Frage stellen und einfach mal fragen, ob er dies oder jenes will und braucht. Eigentlich ist es im Sinne der Nachwirkung des aufklärerischen Freigeistes das Wesen des neuzeitlichen Subjektes „homo sapiens", sich in Erinnerung seiner Selbstmächtigkeit drangvoll von fremdbestimmten Vermittlungen freizumachen. Deshalb genügt es nicht, an die Solidarität anderer zu appellieren, sondern man muss bei sich selbst anfangen.

Nur mit einer solchen Mühe können wir zu dem Punkt gelangen, wo die Negierung zum Erfolg wird.

Marcuses Gedanken zur Technikkritik sind jedoch nicht neu. So erinnere ich an Heideggers Spätschrift „Gelassenheit" im Jahre 1955 anlässlich einer Rede zum 175. Geburtstag des Komponisten Kreuzer, wo er sich mit dem rechnerischen Denken und den Medien auseinander setzte. Ferner seine Schrift „Die Technik und die Kehre“ von 1962. Wie wir wissen, hatte Marcuse ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu Heidegger.

Seine Ansätze, zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Veränderungen hinwirken zu wollen, haben dazu geführt, dass man ihn wohl der Frankfurter Schule zurechnen will.
Das möchte ich aber dahingestellt lassen und es kommt auch nicht darauf an. Viel wichtiger ist, was haben seine geistigen Zöglinge bewirkt? Denn nur daran kann man erkennen, was in Grundzügen von ihm weitervererbt wurde.

Es war Rudi Dutschke, dessen brilliante Rhetorik in seinen Reden mir noch in Erinnerung ist. Dutschke sah sich als ein vom Sozialist zum Marxist mutierter Antipode zur existentialistisch-vergesellschafteten Massenkultur und wollte den Begriff des Sozialismus neu erfinden. Den Sozialismus sah er als abgewirtschaftet und den Stalinismus als reaktionär an. Deshalb war Dutschkes Ziel die Schaffung einer neuen linken Partei. 1979 war er dann Gründungsmitglied der Grünen. Heute wäre er wohl eher bei den „Linken“, Marcuse wohl auch.

Beide würden wohl immer noch von der Überwindung des Kapitals, der Herrschaft des Proletariats, einem real existierenden Sozialismus und einer klassenlosen Gesellschaft träumen. Vielleicht aber auch nicht, denn spätestens seit der Enttarnung der „Mielke-town“ im Jahre 1989 dürften sich derlei Hirngespinste in Luft aufgelöst haben.

Dennoch meine ich, dass viele Thesen von Marcuse über den Umweg seiner „Nachdenker“ auch heute noch berechtigte Aktualität haben.