Rudi Kölmel im November 2004 i.d.F. vom 10.09.2005

 

Liebe

 

1. Einleitung

 

Meine eigenen wechselseitigen Erlebnisse zu dem fast an kosmische Ausmaße anmutenden Gespiel der Gefühle, der Liebe nämlich, lässt mich in den jetzt reiferen Tagen meines eigenen Kreislaufes die Muße oder vielleicht auch die Kraft finden, zu hinterfragen, was mich da eigentlich bewegt hat. Auch was es ist, das da so süß ist wie Vanilleeis, aber auch so schmerzen kann, wie eine Feuerqualle.

 

Wie entsteht die Liebe eigentlich, wo wird sie empfunden.

 

Leider muss ich die unangenehme Aufgabe übernehmen, mich zunächst einmal selbst zu kränken. Früher gab ich mich wohl auch der verklärten Romantikerschwärmerei hin, Liebe spürt man im Herzen. Bei einigem Hinterdenken und Hinterfragen des Standes der Neurowissenschaften muss ich mich aber korrigieren, leider.

 

Zwischen dem Wissen über die obere und untere Strukturebene des menschlichen Hirns liegen noch weite unerforschte Bereiche. Dort, in der mittleren Organisationsebene wird es Aufgabe der nächsten Jahrzehnte sein, zu entschlüsseln, wie einzelne Nervenzellen oder ganze Verbände von Zellen miteinander kommunizieren. Es liegt nahe, dass alle innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen irgendwie zusammenhängen. Hierzu können Imagination, Gefühlsleben, Gefühlsakte (wahrnehmen, beachten, denken, vorstellen), Empathie, Treffen von Entscheidungen, Planungen, gehören. Es verdichten sich Anhaltspunkte dafür, dass diese im neuronalen Mikrokosmos gigantischen Operationen jeweils physiochemisch beschreibbar sind. Genau in diesem Bereich wird die Liebe empfunden, also finden wir uns damit ab, auch wenn es uns so nicht gefällt, dass sie nicht im Herzen abgebildet wird.

 

Doch falle ich natürlich selbst immer wieder in die alte Gewohnheit zurück und verbinde die Liebe eben doch mit dem Herzen.

Nachdem ich weiß, wo sie empfunden wird, möchte ich wissen, mit welcher Intensität sie empfunden wird, ist es eine Momentaufnahme, eine Reihe von Momenten, wie kann ich sie auf der Zeitschiene einordnen?

Weshalb entsteht eigentlich diese merkwürdige Begeisterung?

 

Ich schreibe jetzt von der umfassenden Liebe, die erst durch das Objekt geweckt wird, während die rein geschlechtliche physische Liebe dem Objekt vorauswandert. Diese kann in ihrem spezifischen Drang durch eine Person oder durch irgendeine eine andere Person erfüllt werden. Auch sollte man die Liebe bereits in diesem Stadium vom Wunsch abgrenzen.

Die umfassende Liebe scheint mir als Gefühlsakt die imaginär leuchtendste Grundfärbung der Seele zu sein und grenzt sich durch diese Einzigartigkeit von allen anderen Gefühlsakten ab.

 

Der physiochemische Akt des Verliebens geht einher mit der drangvollen Macht, von etwas bezaubert zu sein, sich verzaubert zu fühlen. Dies ist dann einfach da, wenn das Gegenüber vollkommen ist oder in irgendeiner Art herausragende Eigenschaften besitzt, die einem besonders wertvoll erscheinen oder den Schein in sich birgt, eine solche Vollkommenheit zu besitzen.

 

Dadurch entsteht ein Gefühlsakt, der eine Bewegung auf die geliebte Person hin auslöst.

 

2. Die Verliebtheit

 

Die Vorstufe des Verliebens ist wohl die Verliebtheit, die Beschreibung eines Lebenszustandes, der genau zu betrachten und vom Begriff der Liebe zu separieren ist.

 

Auch die Verliebtheit selbst hat mehrere Betrachtungsseiten. So gibt es die einseitige Verliebtheit und die Verliebtheit auf Gegenseitigkeit.

 

Mir erscheint die Verliebtheit sozusagen mit dem Eingangsbereich, dem Flur eines Hauses vergleichbar. Die Verliebtheit beschreibt das schwärmende und umflirrende erste Gefühl der Anziehungskraft und Hinzugezogenheit zu einem anderen Sein, einem anderen Gegenüber. Die Verliebtheit ist ein Konstrukt, das beim ersten Anwerfen der Maschine aus allen Zylindern brummt, dessen Kapazität aber schlicht und einfach durch die Zeit begrenzt wird.

 

Innerhalb der Zeit, die die spezifische Gefügtheit zur Verfügung stellt, um entweder aus dem ausgesäten Samen die Liebe entstehen zu lassen oder in deren die zerbröckelnde Realität das einst zarte Gebilde wie Schnee unter der Frühjahrssonne dahinschmelzen lässt.

 

Biochemisch ausgedrückt, sinkt die Chance einer langfristigen Liebesbeziehung, sollte sie nicht in der Phase der erhöhten Ausschüttung der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin soziokulturell geflochten und verwoben werden.

 

3. Liebe ist ein zentrifugaler Strom

 

Die Liebe ist im zeitlichen Begreifen keine Momentaufnahme. Sie ist aber auch nicht die Summe einzelner Seinsmomente (Dharmas) im Sinne der Argumentation des Zeitbegriffes der indischen Philosophie.

 

Dieses Gefühl ist vielmehr ein Hinüberströmen, ein Entgegenströmen, ein ständiges Ausströmen, ein Ausatmen eines das Prinzip der leitenden Seele schmeichelnden kosmischen Stoffes zur anderen Seite hin.

 

Dieser Stoff hat wohl den Botenstoff der Sehnsucht in sich, sich mit dem Objekt seiner Begierde zu verschmelzen, es zu bejahen und die Sache der geliebten Person zu seiner eigenen zu machen.

 

Vom Standpunkt des Liebenden aus gesehen, ist Liebe ein zentrifugaler Strom, der sich zum Objekt hin bewegt.

 

In gewissem Sinne ist es ein widersprüchliches Verhalten. Dem Menschen wohnt es eigentlich inne, sein Innerstes unberührt zu lassen, niemanden darin eindringen zu lassen, nicht allzu viel preiszugeben.

 

Nur bei der Liebe ist man zur zumindest teilweisen Aufgabe seines Individuums bereit, sich selbst an der Hand zu nehmen, aus sich herauszugehen, um sich mit sich Selbst dem Gegenüber hinzugeben.

 

Dadurch wird auch der Unterschied zum einfachen Verständnis des Wunsches sichtbar. Wunsch ist Erstreben. Gut, wenn ich liebe, erstrebe ich auch die Zweisamkeit mit dem Gegenüber. Ich kann aber auch Dinge erstreben, die ich nicht liebe, etwa eine Münze. Daraus ersehen wir, dass die Zielrichtung des Wunsches auf den Besitz gerichtet ist, man versucht mit dem Wunsch etwas an sich zu ziehen. Sollte ich nach einer sechsmonatigen Suche die Münze endlich gefunden und erworben haben, hat sich der Wunsch erfüllt, er entzieht sich sozusagen selbst die Geschäftsgrundlage, er kommt in Wegfall.

 

Die Liebe hingegen ist nicht ein An-Sich-Heranziehen, sondern ein Auf-das-Geliebte-Hingehen.

 

Die wahre und umfassende Liebe entsteht nicht an einem Tag, sie reift. Selten sind alle wesentlichen Komponenten gleichartig monumental vorhanden und für beide Seiten spürbar. Körperliche und psychische Komponenten streben aber nach Gleichklang, nach Harmonie.

 

4. Liebe ist keine statische Größe, sondern ein Gebilde mit hoher Pflegebedürftigkeit

 

Was passiert aber, wenn ein Teil erkennt, dass es gar nicht die rechte und wahre Liebe, sondern eine falsche Liebe ist, sich die Liebe verändert, allmählich geht, man sich entliebt.

 

Die Gründe für die Trennung sind so ergiebig, wie die Monsunregen in den Tropen.

In vielen Fällen ist dies keine plötzliche Erkenntnis, sondern ein Prozess.

Es ist das Nichterfüllen von Erwartungen, Wegfall der Begierde, Langeweile, Sprachlosigkeit, Transformation zum Belanglosen, keine gemeinsamen Interessen und Ziele mehr.

 

Grundsätzlich gehört es wohl zum Wesen des menschlichen Bewusstseins, Dinge zu beachten. Wenn sich aber eine Seite blenden ließ, Dinge falsch bewertete und sie sich dann hintergangen fühlt. Oft wird dann behauptet, der Andere hätte getäuscht. Tatsächlich hat er dies aber in der Regel gar nicht. Die Gegenseite hat sich nur nicht genügend Zeit genommen, seinen Charakter zu ergründen.

 

Vielfach entsteht die erste Hingezogenheit zum Gegenüber aus dem ersten Eindruck von Äußerlichkeiten, wie Gestik, Kleidung, Körperhaltung oder Mimik. Darin ein Fundament zu sehen, ist eben sehr gefährlich. Nur dann, wenn das Gegenüber fast schon einen psychischen Offenbarungseid leistet, kann man sich ein Bild machen, wenn man sein Innenleben, also seinen Charakter erfährt.

Den erfährt man dann, wenn es über seine Phantasien, Pläne, Bedrückungen aus der Vergangenheit, Sorgen um die Zukunft redet, seine Gedanken offen legt. Seine Konflikte erkennbar sind und eventuelle Wutregungen bewertet werden können.

 

Der Charakter eines Menschen ist die solide Grundlage für ein möglichst gutes Gelingen des Unternehmens Liebe, denn er ist das festumrissene Gebäude, das einen erwachsenen Menschen noch nach Jahren planbar und identifizierbar macht.

 

Sobald der Erkennende sich des Auseinanderklaffens zwischen seiner Meinung über das Gegenüber und eines möglichen schlechten Charakters gewahr wird, sollte er die Beziehung beenden, denn ein Mensch ändert seinen Charakter nur selten. Damit gewinnt der Spruch an lebensbezüglicher Wichtigkeit, wonach prüfen solle, wer sich ewig bindet.

 

Auch ist die Forderung nach etwas mehr Weitsicht in Bezug auf den anderen Partner keine Erfindung der Jetztzeit.

 

Bereits Marcus Aurelius (römischer Philosophenkaiser (121 bis 180) machte hierzu schon Feststellungen in Anmerkung 14 des achten Buches seiner Selbstbetrachtungen. Er forderte dazu auf, sich bei einem Zusammentreffen mit jemand zu hinterfragen, welche Grundüberzeugungen dieser Mensch über Gut und Böse und andere Dinge hat. Wenn man diese Prüfung sorgfältig macht und sich dabei Zeit lässt, kann man wohl viele spätere Enttäuschungen ausschließen.

 

Wenig hilft dies in den Fällen, in denen die Liebe missbraucht, entwertet wird.

 

Es wird immer wieder Menschen geben, die bereit sind, Liebe entgegenzunehmen, sich vielleicht geschmeichelt fühlen, gleichwohl bereit sind, das Kalkül der vorsätzlichen arglistigen Täuschung sogar schon in den Beginn einer Beziehung hineinzutragen. Arglistig ist jedes Verhalten, das einen Irrtum erzeugt und aufrechterhält und bei dem der Täuschende weiß oder in Kauf nimmt, dass er dadurch Willensentscheidungen des Partners beeinflusst. Dies sind etwa Fälle, in denen eine Seite eine weitere Beziehung hat, womöglich über eine längere Zeit und dies durch vorsätzlich geplantes arglistiges Tun verheimlicht.

 

Gerade nicht erfüllte Erwartungen sind oft der Grund für das Scheitern. Geprägte erwachsene Menschen sind vielfach nicht bereit, von ihren Erwartungen abzugehen.

 

Ich halte das axiomatische, gesetzesmäßige Festlegen eines fast unverrückbaren Erwartungshorizontes nicht für gut. So ein eingebauter Drehzahlmesser für ein bis zu einem bestimmten Punkt toleriertes Verhalten des Gegenübers ist für den Partner zu einengend.

 

Deshalb ist es wünschenswert, vor dem Beginn der tieferen Beziehung zuzulassen, sich selbst ins Risiko zu stellen, um dadurch zu erfahren, zu welchen Kompromissen man bereit ist, was man bereit ist, aufzugeben.

Kompromisse sind ein Überlastungsschutz, ein Puffer, der zu einem fairen Ausgleich unterschiedlicher Auffassungen führen kann. Kompromisse verhindern, dass sich der Motor der Beziehung festfährt. Um solche Kompromisse eingehen zu können, muss man eine eigene Wesensschau machen und sich fragen, ob diese oder jene Entwicklung noch dem eigenen Wesen entspricht. Dazu gehört auch die Frage, was man der anderen Seite wert ist.

 

Irgendwann erkennt man, dass die Zeit vergangen ist, wie die Kräuselung auf dem Wasser, Monate haben sich zu Monaten addiert, Jahre sind vergangen und haben sich zu Jahrzehnten zusammengefunden.

 

Zwei Menschen sind vielleicht dem soziokulturellen Schubladendenken erlegen und haben gemacht, was die Gesellschaft von ihnen erwartet hat. Sie haben geheiratet, sind berufstätig, zahlen Steuern, bekamen vielleicht Kinder, um diese wiederum zu braven Steuerzahlern zu erziehen. Die Väter und Mütter werden eines Tages nach dem Beruf des Freundes der Tochter fragen, wie viel er verdient, wo er wohnt, welchen gesellschaftlichen Status seine Eltern haben. Sie werden wahrscheinlich nicht fragen, welche Stimme er hat, was er denkt, mit was sich seine Seele beschäftigt.

 

Über all dies hat unser Vorzeigepaar allmählich vergessen, wie bei ihnen selbst alles begonnen hat.

 

Sie haben vergessen, dass die Liebe trotz der iglumäßig beschränkten und überschaubaren Zweisamkeit ein lebendiges Gebilde von hoher Komplexität ist. Sie ist ähnlich einem Korallenbau, ständig auf Erneuerung angewiesen.

Sie ist eben keine statische Größe, man kann die Liebe nicht wie ein Buch in den hintersten Winkel des Schrankes stellen und vergessen oder gar glauben, sie werde vom Staub verschont Pflegt man die Liebe nicht, verstaubt sie. Sie fühlt sich dann am wohlsten, wenn im Hintergrund ständig ein kleiner Reizstrom eingeschaltet ist oder auf eine Phase der vertrauten Beschaulichkeit eine solche folgt, die das Gegenüber zur Wahrnehmung und Neubewertung herausfordert. Damit es nicht ein dauerndes gleichmäßiges Aufeinanderkleben ist, sollte sich ein feines Spiel des sich Entfernens und Aufeinander-Zugehens entfalten.

So kann der atmosphärische Zustand kommen, an dem man sich des Zustands des Verliebtseins und der Liebe nur noch als Relikt seiner einstigen prachtgeschwängerten Größe erinnert, Eintönigkeit die Antwort im ewigen Dualismus auf die einstige Vielfalt ist. Grau wird die Antwort auf den Regenbogen, der längst in den Falten der Erinnerung verschwunden ist.

Einst Liebender und Geliebte, jetzt führen sie nur noch ein Leben in Parallelität, sie leben einfach parallel nebeneinander her. Sie funktionieren nur noch gegenüber dem übergeordneten Vereinnahmungsmechanismus, leben, konsumieren, funktionieren. Aber sie lieben nicht mehr.

 

Um es in einer Metapher auszudrücken, könnte man sagen, der eine Teil stellt plötzlich fest, dass sein geglaubtes Gegenüber gar nicht mehr im gleichen Auto mit ihm auf der Lebensautobahn unterwegs ist. Überrascht stellt er mit einem Seitenblick fest, dass es auf gleicher Höhe auf der Überholspur fährt. Dies kann mitunter sehr lange dauern.

Es gibt viele Paare, die aus Gründen der Sorge um die Zukunft und aus Gründen der Bequemlichkeit und Anpassung diesen Zustand bis zum Lebensende aussitzen.

Andererseits zeigt die Scheidungsrate, dass man mit dem Begriff der ewigen Liebe sehr vorsichtig umgehen muss. Ich selbst habe einmal ein Buch bekommen, da stand auf der zweiten Seite auch -in ewiger Liebe -.

Die Liebe ist definitiv nicht Gegenstand der Betrachtung des Augenblicks, da der Augenblick keine zeitliche Ausdehnung hat. Demgegenüber scheitert aber auch der Ausdruck „in ewiger Liebe" an dem Erfordernis der Falsifizierbarkeit. Physikalisch kann sie nun mal nicht ewig dauern, da die Ewigkeit etwas ohne Anfang und ohne Ende ist.

 

Letztlich gestehe ich auch hier ein, dass sich das schöne an dieser mystisch verklärten Sicht, die Liebe sei ewig, durch diese nüchterne Betrachtung entzaubern lassen muss.

 

In meinen virtuell unausgetrunkenen Perspektiven flüchte ich mich in die Hoffnung, dass es ein imaginäres kosmisches Reservoir gibt, in das die Liebe aller Menschen aller bisher gelebten Zeiten und der noch kommenden Zeiten fließt und so die grobstoffliche Hülle des Körpers überdauert, sogar über den nächsten Big Bang hinaus.

So, nun aber zurück zur Wirklichkeit.

In der nächsten Phase erkennt man vielleicht, dass das Gegenüber an der kommenden Autobahnkreuzung rausfährt, vielleicht fährt es jetzt nach Süden, ich bin immer noch nach Norden unterwegs. Spätestens jetzt sollte die eigene Selbstmächtigkeit eine Korrektur einleiten.

 

5. Insgesamt sehe ich vier Arten der gehenden Liebe

 

Die erste Art der gehenden Liebe ist die leichteste, die Liebe geht bei beiden Seiten. Die zweite Variante ist die schmerzlichste, eine Seite bleibt mit seiner Liebe lebenslang zurück. Der dritte Weg zeichnet sich dadurch aus, dass sie bei einem Partner geht, beim anderen Teil nur ganz langsam, bis sie irgendwann auch gegangen ist. Bei der vierten Variante besteht die Liebe nach der Trennung bei beiden Seiten fort, sie ist die seltenste Art der gehenden Liebe, aber auch die tragischste.

 

5.1 Bei der ersten Variante geht die Liebe bei beiden Seiten

 

Am wenigsten verletzend ist es, wenn die Entliebung bei beiden Teilen gleichzeitig und gleichmäßig einsetzt, also sich Präsens Aktiv (Ich liebe) zum Plusquamperfekt (wir hatten geliebt), wandelt. Bei dieser Variante bleibt keine Seite mit Liebesschmerzen zurück.

 

5.2 Bei der zweiten Möglichkeit geht die Liebe bei einem Partner, während sie beim anderen Partner niemals geht

 

In einer Minute hat man sich in jemanden verschaut, in einer Stunde mag man jemanden, in einem Tag liebt man jemanden, aber es dauert vielleicht ein ganzes Leben, um jemanden zu vergessen, so lautet ein Spruch der Liebe.

Schmerzlich mag es wohl sein, wenn die Trennung geschieht, weil die Liebe nur bei einer Seite geht. Die andere Seite bleibt damit zurück, die in der Blüte stehende Liebe wird bei der liebenden Seite nie ganz schwinden, sie wird wohl nur vakuumiert, in den Urgrund der Seele verschoben, wo sie fortdauert, aber niemals wirklich stirbt. Fortdauert, heruntergefahren auf einen lebenserhaltenden Minimalmodus. Menschen, die davon betroffen sind, leiden ein Leben lang an den Wunden, die nicht heilen, nur an den Schmerz gewöhnen sie sich.

Diese Art der gegangenen Liebe hat die Eigenart, sich sehr oft und unerwartet in Erinnerung zu bringen. Dies dann mit Bildern aus der Vergangenheit, die trotz und gerade wegen der gemeinsamen Zeit die Jetztzeit belasten. Ausgelöst wird dies etwa von Liedern, Gegenständen, Wegen, Straßen und Landschaften, die man gemeinsam gegangen ist oder bereist hat, auch von Personen. Lieder, die man nicht mehr hören will, Gegenstände, die man nicht mehr anfassen will, Wege, die man dann nicht mehr fahren will, Landschaften, wo man nicht mehr hinreisen will, Personen, denen man aus dem Wege geht.

Diese Liebe ist mit einem Peilsender versehen, der dem anderen Teil immer nur eine Botschaft sendet „Sei froh, dass du nicht fühlen musst, wie meine Seele friert".

Die Verstetigung des Bewusstseins der Fortdauer einer Liebe ohne Gegenliebe ist dann ein Leidensdruck, der sich schlimmstenfalls in einer Einfärbung der Psyche äußert. Für diese Betroffenen ist es mühevoll, den Pfad zu gehen, der sie aus dem Plusquamperfekt Passiv (ich war geliebt worden) zum Futur I Aktiv (ich werde lieben) hinüberwechseln lässt.

Den Menschen, die so weiterleben müssen, wünsche ich alle Stärke der Welt, sollten sie straucheln, solle die Erde für sie tanzen.

 

5.3 Bei der dritten Variante geht die Liebe bei einem Partner sehr sehr langsam

 

Diese Variante ist die einer etwas gnädigeren Natur. Die Liebe ist bei einem Partner zurückgeblieben. Der Zeitenlauf, die Schichten neuer Gedanken und deren Bewertung führen dazu, dass die zurückgebliebene Eigenkraft der Liebe sich vermindert, bis der noch Liebende erkennt, es ist keine Liebe mehr, nur noch Sehnsucht, bis auch diese eines Tages verschwindet. Bei dieser Variante findet die Natur eine Lösung, damit sich die Gnade des Vergessens wie ein im Herbst aufkommender Nebel über die Lebenslandschaft legen kann.

 

5.4 Bei der vierten Variante mag die Liebe irgendwie weiter bestehen, da keine Reflexion stattgefunden hat

 

Diese Variante weist einen großen Gehalt an Tragik auf. Es ist eine Trennung, die von beiden Seiten getragen ist, gleichwohl vom Urgrund der Seele gar nicht gewollt ist, die an dem entscheidenden Zeitpunkt gerade mal nur einen Moment weggeschaut hat. Die zwei Menschen trennen sich, lieben sich aber noch weiter. Zuerst verteidigen sie vielleicht zur eigenen Rechtfertigung ihre Positionen, dann immer halbherziger, bis sie am Fenster stehen und in die Richtung des anderen schauen. Dieser seltene Fall kommt insbesondere dann vor, wenn man sich gar keine Zeit der Reflexion, der Aufarbeitung genommen hat, sich niemals richtig ausgesprochen hat. Später dann nur die Unvollständigkeit menschlicher Veranlagung die Wiederannäherung verhindert. Eine Art Liebe aber, in der das Substrat allmählich wieder eine Motorik entwickelt, sich die innere Drehzahl erhöht. Eine Liebe, in der das Ende offen ist, es vielleicht nie zu einem guten Ende kommt oder vielleicht nur unwirklich langsam.

 

6. Besonderheiten

 

Zum Ende nun eine besondere Art der Liebe, sie ist von Tsunemoto Yamamoto im Jahre 1716 im legendären Ehrenkodex der Samurai, dem Hagakure, niedergeschrieben. Er spricht von der Liebe in ihrer höchsten Form:

Die höchste Form der Liebe liegt darin, die brennende Liebe für sich zu behalten
und nicht einmal der geliebten Person sein Herz zu öffnen.

    Empfange, wenn mein Leben vorüber ist,
    Meine verzehrende Liebe für Dich
    Aus dem Rauch, der von meinem brennenden Körper aufsteigt.
        
Die Liebe, die einer Geliebten offenbart wird, wenn man noch lebt, ist nicht tief ; mit der geheimgehaltenen Liebe zu sterben ist die höchste Form der Liebe.
Selbst wenn man von dem Menschen, den man liebt, gefragt wird, ob das der Fall ist, ist es entscheidend, gleich zu antworten: "Das ist das letzte, was ich mir vorstellen kann."


Was für einen komplizierten Weg die wahrste Liebe doch gehen muss!

Trotz und gerade der eigenen Erfahrungen wegen, glaube ich daran, dass die Liebe die größte Kraft im Universum ist und bleibt.

 

Dies meinte wohl auch Dante (italienischer Dichter 1265-1321) in seinem Werk -Die göttliche Komödie-, worin er die Liebe dazu befähigt sah, die Sonne und die Sterne zu bewegen.

 

Vielleicht hat er recht damit.