Rudi Kölmel im Januar 2006 i.d.F. vom 07.02.2016

 

 

 

Menschlichkeit und Vernunft

 

 

 

1. Menschlichkeit kein Erkenntnisvorgang, sondern immerwährende Aufgabe

 

 

 

Die Frage nach der Menschlichkeit heißt denjenigen auf der Spur zu sein, die diese Frage bereits zu einer Zeit gestellt haben, in denen ein Menschenalter durchlebt werden konnte, ohne der Erde schädliche Stoffe zu hinterlassen. Ich benütze dies als Umschreibung dafür, dass es schon sehr lange her ist, seit der Mensch sich in seiner „Menschlichkeit“ feiert.

 

Eines haben wir aber mit diesen Menschen gemeinsam, die Erkenntnis, dass es keine letztendliche Antwort, keine Formel für die Menschlichkeit gibt. Deshalb stelle ich hier erneut die Frage nach dem Wesen der Menschlichkeit und sie wird noch gestellt werden, wenn wir längst nicht mehr sind.

 

Die Menschlichkeit ist somit kein einmaliger Erkenntnisvorgang, sondern eine immerwährende Aufgabe, ein Projekt, das irgendwann in der Vergangenheit angefangen hat und irgendwo enden wird.

 

So sehe ich, dass bei der Fragestellung das Wesen Mensch zu sich selbst Stellung nimmt, jedoch immer im Konsens mit Vorstellungen, Leitlinien, vielleicht auch gedanklichen Korsetten, die er nur schwer abschütteln kann. Die Fähigkeit zur Fragestellung und Reflexion fordert auch, sich unbequemen Einsichten zu stellen.

 

Innerhalb der Gruppe der Hominoiden fand vor wohl 5 bis 6 Millionen Jahren die Trennung der Affen von den sich entwickelnden Menschen, dem heutigen homo sapiens statt. Nach den Erkenntnissen der molekularbiologischen Forschung sollen Menschen und Schimpansen zu fast 99 Prozent gleiches Erbgut haben. Irgendwann glaubten die Menschen dann, sie seien menschlich.

 

Die Spezies Mensch sollte vor dem hochtrabenden intrahominidem Wunsch nach mehr Humanität zuerst seinen Abgrenzungsfeldzug gegenüber „sogenannten Tieren“ und die daraus resultierenden Folgen überdenken.

 

 

 

2. „Differencia specifica" Wesensunterschied und Abgrenzungsstrategien des Menschen zu Tieren

 

 

 

Die Frage nach der Menschlichkeit gebiert meines Erachtens zuerst die zu untersuchende Frage, was es mit der Bezeichnung Mensch eigentlich auf sich hat.

 

Nachdem sich der Mensch als Mensch bezeichnete, erklärte er den Rest eben als Tiere oder Sachen. Wie dies geschah, war der Vorgeschmack dessen, wie sich die Spezies weiter gebärden sollte.

 

Er fühlt sich bereits angegriffen, wenn er nach der Erklärung seines Selbst angesprochen wird, ohne das Wesen des Selbst jedoch erklären zu wollen. Er ist jedoch eifrig darum bemüht, zu erklären, weshalb das „Andere" anders ist bzw. weshalb er selbst nicht unmenschlich sei.

 

Der Mensch legte schon immer großen Wert auf die Feststellung des Zustandes „Mensch" zu sein und leitete dies von seiner Denk- und Sprachfähigkeit ab. Soweit damit der spezifische Unterschied wie etwa zwischen Äpfel und Birnen dargestellt werden soll, hat dies zweifelsfrei seine Berechtigung. Unter diesem Aspekt möchte ich einer Abgrenzung nicht das Wort reden. Niemand wird bestreiten, dass ein Mensch eben etwas anderes ist als ein Affe.

 

 

 

Jedoch gilt es zu hinterfragen, soweit damit beabsichtigt ist, eine Werteskala von gut und schlecht, gut und klug zu besetzen. Genau dies macht jedoch der Mensch. Wo liegt eigentlich der Wesenszug des Menschen für so eine Denkrichtung? Der Mensch verfügt offenbar über eine ihm innewohnende Grundstimmung, eine a priori-Kraft, seine eigene Spezies begrifflich positiv zu besetzen.

 

Soweit er etwa nämlich in einem Erklärungszusammenhang das Wort „tierisch" erwähnt, geschieht dies überwiegend in einer negativen Besetzung.

 

Für mich besonders interessant ist ,dass auch Humanisten sich nicht gescheut haben, dies so zu sehen. Schon ungefähr 125 Jahre vor Grimmelshausen hat der Renaissence-Humanist Pico della Mirandola geschrieben, wir können „nach unten ins Tierische entarten“, oder auch „nach oben in das Göttliche“.

 

 

Tiere sind nicht Tiere aufgrund ureigenster Veranlagung, sondern wegen des autoritären Akts, mit dem der Mensch eben andersartige Lebewesen dazu erklärt.

 

 

 

Der Begriff „Tier" ist eine Erfindung des Menschen.

 

 

 

Die überhebliche Art des homo sapiens zur Rechtfertigung der Abgrenzung gegenüber den Tieren, lässt sich am Beispiel des Affen leicht nachvollziehen. Durch alle Zeiten nachgewiesenen Wissens hinweg hat sich der Mensch bei der Abrenzung zu der Tierwelt auf den Affen kapriziert. Zu den Affen sah er wegen deren Physiognomie immer eine besondere Nähe.

 

 

 

Dabei definierte der Mensch das Äffen oder Nachäffen des Affen herabwürdigend als wertlose, dumme, parodistische und unreflektierte Mimesis, mithin genuin animalisch. Im Gegensatz dazu sieht er das Nachahmen des Menschen als wertvolle, kluge, reflektierte Mimesis an, also genuin menschlich.

 

 

 

Dieses Schubladendenken produzierte weitere einseitige Argumentationsgirlanden.

 

Etwa Mensch = Humanität = human = besser als Anderes = gut.

 

Tier = Animalität = animalisch = schlecht.

 

 

 

Der Mensch hat sich als das Beste deklariert, der Rest darf die Werteskala von wertvoll, soweit es menschlichen Interessen dient (früher der Besitz von Sklaven oder „Vieh") über weniger wertvoll oder gut bis hin zu wertlos oder schlecht bzw. böse, besetzen.

 

Dieser Wesenszug zur Abgrenzung, ist tiefgreifend, der Mensch hat ihn auch intraspezifisch, also auch innerhalb der Art angewandt, auch dort wirken die gleichen Zuordnungsmechanismen, so etwa, dieses oder jenes Land oder politische System seien böse, selbst sei man gut.

 

 

 

 

 

3. Anthropozentrisches Weltbild, Entwicklung

 

 

 

Die Strategie des Menschen zur maßlosen Selbsterhöhung gegenüber der Tierwelt geschah jedoch nicht zufällig. Der Mensch schaffte sich bereits langem innerhalb der menschlichen Anthropologie eine Sozialisation, die dies von Anfang an begünstigte. An diesem Punkt ist es notwendig, die ersten schriftlichen Darlegungen dazu zu betrachten, da mir ein phänomenologische, somit wertfreie, Sicht durch die Betrachtungen von Mutmaßungen oder Mythen nur schwer möglich ist.

 

 

 

Angefangen hat das Übel der Selbstüberschätzung im christlich geprägten Bereich wohl mit der Genesis, dem 1. Buch Moses (identisch mit Buch Bereschit der Thora, etwa 1300 v.Chr.). Seine eigene Stellung und die Einstellung zur Tierwelt dokumentiert der Mensch nirgends besser als in den Schriften des Christentums.

 

Diese Entwicklung bezeichnete man im Gesamten dann als das anthropozentristische Weltbild, in dem Mensch im Mittelpunkt steht.

 

Mit der immer größer werdenden Instinktarmut ab der Entdeckung der Wissenschaften verlor der Mensch das Gefühl der Einbezogenheit in die Natur, er hatte das Gefühl, sie nicht mehr nötig zu haben.

 

 

 

3.1 Menschen essen noch keine Tiere, Tiere essen noch keine Tiere = Gottes gute Schöpfung (1. Buch Mose Kap. 1 Vers 29-31)

 

 

 

Als Terminus wird je nach der Übersetzung im 1. Buch Moses (Genesis) Kapitel 1 Vers 20 zuerst der Begriff der „Tiere" oder des "Getiers" konnotiert. Am sechsten Tag hat Gott dann, den Gesetzen der grammatikalischen Steigerung folgend, aus seiner Sicht wohl das Meisterstück vollbracht, den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen. Seine Zwerge habe es im Vers 26 wie folgt niedergeschrieben:

 


"Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht".

 

Da die ersten Menschen noch nicht recht wussten, ob die Tiere ihnen ebenbürtig waren, hat Gott sie mit der ersten Legitimation aufs hohe Ross gesetzt und ihnen klargemacht, dass sie über die Tiere herrschen sollen, damit war aber noch nicht das Essen von Tieren gemeint, nachlesbar in Vers 28:

 

"Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht." So haben sie darauf losgewerkelt.

 

In Vers 29-31 hat er dann die gegenseitige Achtung der körperlichen Integrität zwischen Mensch und Tier festgelegt, in dem er den Menschen die Früchte und Samen als Nahrungsmittel und den Tieren die Grünpflanzen zugeordnet hat.

 

In Vers 31 kommt dieses friedliche Zusammenleben mit der Beschreibung des vorsintflutlichen Idealzustandes zum Ausdruck.

 

(29) Gott spricht zu den Menschen: „Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise“.

 

(30) Aber allen Tieren auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das auf Erden lebt, habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben. (31). Und es geschah so. Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut."

 

 

 

3.2 Menschen essen Tiere und dürfen Furcht und Schrecken verbreiten (1.Buch Mose Kap. 9 Vers 2-4)

 

 

 

Sehr lange sollte die friedliche Koexistenz der Menschen- und Tierwelt aber nicht anhalten, der Fall des Menschen (Essen der verbotenen Frucht) und die Sintflut sollten bei Gott ein grundlegendes Umdenken bewirken.

 

Der Mensch sollte von nun an bei den Tieren Furcht und Schrecken verbreiten und diese auch essen. 1. Buch Mose 9,2-4:

 

„Nach der Sintflut soll Gott zu den Menschen anders gesprochen haben:

 

„Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren auf Erden und über allen Vögeln unter dem Himmel, über allem, was auf dem Erdboden wimmelt, und über allen Fischen im Meer; in eure Hände seien sie gegeben. Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich´s euch alles gegeben. Allein esst das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben ist."

 

Die Psychologie müsste so einen Gott zum Kranken erklären.

 

 

 

3.3 Gott schafft Negativliste von Tieren die nicht gegessen werden dürfen (3. Buch Mose -Levitikus- Kap. 11 Vers 1-30

 

 

 Weshalb sollte so ein Gott bestimmen, ob ein Tier rein oder unrein ist?

 

Gott bestimmt über Mose , was unter den Tieren rein und unrein ist. Die unreinen Tiere dürfen nicht gegessen werden, darunter Schweine. In der Einheitsübersetzung sind die Kapitel 11,1 bis 15,33 als sogenannte „Reinheitsgesetze" aufgeführt. Reinheitsgesetze gab es später auch für das deutsche Bier, 1517 glaube ich, 1933 gab es dann auch wieder Reinheitsgesetze.

 

 

 

3.4 Essen und Schlachten von Tieren ohne Schranken (Neues Testament, 1. Korinther 10,25-26

 

 

 

Mir springt das umgekehrt Proportionale zwischen altem und neuem Testament geradezu ins Auge. Der Nazarener verwirft in vielen Punkten das Alte Testament ziemlich eindeutig.

 

Dies ist erkennbar an den vergleichenden Formulierungen. Mit „Ihr habt gehört, dass gesagt ist, meint er das Alte Testament. Mit der Aussage „ich aber sage euch" wird der Bruch vollzogen (Bsp etwa AT 2.Buch Mose Kapitel 21-24 im Gegensatz durch NT Matthäus 5,38-39).

 

Im Umgang zwischen den Menschen wird die Menschlichkeit angeraten, mithin erfolgt eine Abschwächung des zornigen, eifersüchtigen und rächenden Gottes des Alten Testamentes, während im Umgang zwischen Menschen und Tieren im Neuen Testament eine klare Verschärfung des Alten Testamentes zu ungunsten der Tiere stattfindet. Die Menschen haben Gottes Aufforderung (1. Buch Mose Kap. 9 Vers 2-4), Furcht und Schrecken bei Tieren zu verbreiten, ernst genommen und den Auftrag bis zum heutigen Tag gewissenhaft erfüllt.

 

Sollte Gott zum damaligen Zeitpunkt allwissend gewesen sein, wusste er, dass sich die Menschen zu Tierquälern entwickeln würden.

 

Es entzieht sich völlig dem methodischen Denken, weshalb gerade die Tiere für die Bosheit und Schlechtigkeit der Menschen (Genesis Kapitel 6) leiden und büßen sollten. Schließlich haben doch die Menschen und nicht die Tiere Gott verärgert, weshalb also wurden die Tiere mit der Sintflut in den ersten Holocaust der Erdgeschichte mit einbezogen.

 

 Selbst manche Ausnahmemenschen des 20. Jahrhunderts waren gegenüber ihren Schäferhunden Tierfreunde, weshalb war Gott im Vergleich zu diesen nicht etwa durch die vielen unschuldigen Rehkitzlein zu erweichen, deren Lungen sich bei der Sintflut langsam und tödlich mit Wasser füllten und die in ihren letzten Augenblicken ein „Warum, was haben wir getan, dass Gott uns jämmerlich ertrinken lässt „ in die damalige Welt blinzelten, bevor sich ihre sanften braunen Augen für immer schlossen.

 

Dies lässt die berechtigte Frage aufkommen, ob Gott ein Sadist oder ein Tierquäler war?

 

 Sollte man dies unter Anlegung des Maßstabes der Denklogik bejahen können, wirft es entsprechend dem Theodizeegedanken die weitere Frage auf, ob Gott überhaupt angesichts der initiierten Bosheit die ihm zugesprochene Rolle des absolut Guten und Reinen besetzen kann?

 

Korinter 10,25-26 :

 

Paulus erklärt hier: „Alles, was auf dem Fleischmarkt verkauft wird, das esst und forscht nicht nach, damit ihr das Gewissen nicht beschwert. Denn die Erde ist des Herrn und was darinnen ist."

 

 

 

3.5 Protagoras, Der Mensch ist das Maß aller Dinge

 

 

 

Der nächste Höhepunkt war dann schon der antike Denker Protagoras (490 v.Chr.), Vertreter der Sophisten, der den Gedanken mit seinem Homo-Mensura-Satz "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" prägte. Gleichwohl meinte Protagoras in erster Linie wohl, dass der Mensch sein eigener Schöpfer ist.

 

 

 

3.6 Seneca

 

 

 

Interessanterweise kommt aber auch von Seneca eine Beigabe. In dem Werk „De Ira" oder „Über die Wut" (ab 41 n.Chr.) spricht er im ersten Buch (liber primus) in Kapitel 4 Abs. 3 davon, dass die Wut die Veranlagung des Menschen zum Altruismus zerstöre.

 

Darin bezeichnete er aber den Menschen als das beste und makelloseste Werk der Natur.

 

„Quis ergo magis naturam rerum ignorat quam qui optimo eius operi et ementadissimo hoc ferum ac perniciosum vitium asignat?

 

„Kann man also die Natur, die alles geschaffen hat, mehr verkennen, als wenn man dem besten und makellosesten ihrer Werke diese aggressive und gemeingefährliche Störung zuspricht.?"

 

Seneca tat diesen Ausspruch wohl mit einem gehörigen Augenzwinkern, ließ er doch im I. Buch Kapitel 1 Abs. 3 wissen, dass er Wut als Krankheit sehe. Nach Kapitel 3 Abs. 3 seien Tiere jedoch davon ausgenommen.

 

 

 

4. Humanismus, aber immer noch keine Menschlichkeit

 

 

 

Die historische Betrachtung führt dann auch über die Ansicht von Cicero zu "humanitas". Die spätere Entwicklung führte zum uns bekannten Humanismus der Renaissance, der sich von Italien des 14. Jahrhunderts aus über ganz Europa ausbreitete und im wesentlichen eine Wiederbelebung der antiken Kultur zum Ziel hatte. Die Bemühungen um das "Mensch-Sein" wurden unter dem Begriff "Studia humanitatis" zusammengefasst, das gesamte Wissen humanistischer Forschung zum Wohle einer sich darauf gründenden Gesellschaft.

 

Hoffnungen und Wünschen ergeht es jedoch wie den Schienbeinen. Der Zug der Menschlichkeit wurde bald jäh gestoppt, der Absolutismus hatte eine Vollbremsung verursacht. Der Restbestand an humanistischer Neugier führte nach der Überwindung des Absolutismus zur Aufklärung. Die Namen der berühmten Humanisten sind groß, deren Einfluss auf unser Denken tiefgreifend.

 

Dennoch stelle ich mir hier schon die Zwischenfrage, eigentlich ist es keine Frage, sondern eine Feststellung, weshalb die Kriege, die in ihrer Größe den damals wirkenden Humanisten in nichts nachstanden, dennoch geführt wurden?

 

Kants kategorischer Imperativ und seine Frage "Was sollen wir tun" haben so wenig bewirkt wie die Imperative der Bibel. Auch die Neubelebung am Anfang des 20. Jahrhunderts konnten die kommenden Stahlgewitter nicht verhindern.

 

 

 

5. Der Anthropozentrismus und seine Vollbremsung

 

 

 

5.1 Charles Darwin

 

 

 

Die erste naturwissenschaftliche Vollbremsung verpasste dem Anthropozentrismus Charles Darwin im Jahre 1859 mit seiner Abstammungslehre („The Origin of Species"), ein Volltreffer, eine Weltbildveränderung. Das was da geschah, ging als eine der „Kränkungen der Menschheit" in die Geschichte ein. Er beschränkte sich indes auf die naturwissenschaftlichen Feststellung, dass Mensch und Affen gleiche Vorfahren haben, aus der Auseinandersetzung mit der biblischen Schöpfungslehre hielt er sich raus, dies sollte etwa Aufgabe von Henry Huxley sein.

 

 

 

5.2 Nietzsche

 

 

 

Friedrich Wilhelm Nietzsche beschleunigte die anthropologische Vollbremsung zu einem crescendo.

 

 

 

5.2.1 Genealogie der Moral

 

 

 

In „Genealogie der Moral" kehrt Nietzsche Kants und Herders Sichtweise (der Affe äfft den Menschen nach) völlig um, indem er frägt, ob der Mensch vielleicht den Affen nachahmt. Damit tritt er dem anthropozentrischen Weltbild in bester Tradition von Darwin kräftig an die Beine. Den Menschen bezichtigt er, dass er beim Anblick von Leid Freude empfinde und nur noch größeren Genuss bei der Verursachung von Leid habe. Die Affen könnten dem möglicherweise zustimmen. Affen könnten auch Grausamkeiten erdenken, diese Grausamkeiten seien mithin eine Vorwegnahme der später von den Menschen begangenen -humanen- Greuel. Somit würden also die Menschen die Affen nachahmen.

 

 

 

Auszug aus Genealogie der Moral, 2. Abhandlung Nr. 6

 

 

 

„Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler - das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden: denn man erzählt, dass sie im Ausdenken von bizarren Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen und gleichsam „vorspielen".

 

 

 

5.2.2 "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" von 1883

 

 

 

Darin schildert er seine Ansicht einer miniminalistischen Anthropologie." in der Metapher von der Mücke. Er lastet dem Menschen an, zu glauben, um ihn würde sich die Welt drehen. Er schreibt:

 

„Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt."

 

Auch stellte er fest, dass es Ewigkeiten gab, in denen der Mensch nicht war und wenn es wieder vorbei mit ihm ist, wird sich nichts begeben haben.

 

 

 

5.2.3 Zarathustra

 

 

 

In Nr. 3 der Vorrede ließ er Zarathustra (1883) den Menschen mitteilen:

 


"Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham...Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe"

 

 

 

Zarathustra beschreibt die Selbstverachtung des Menschen, indem er den Affen, von dem er selbst „abstammt" als Beschämung ansieht. Zarathustra hält dem Menschen vor, dass der Mensch sich aus niedrigen Lebewesen entwickelt hat. Da er aber sogar noch affenartiger als der Affe selbst sei, wäre der Mensch überwiegend immer noch das niedrige Lebewesen. Dies ist meines Erachtens eine Metapher, in der in der Verachtung des Affen die Selbstabwertung erwächst.

 


Nietzsche, der stark von den Erschütterungen des Darwinismus geprägt war notierte außerdem sarkastisch:

 


"die "Affen" seien viel zu "gutmütig", als daß der Mensch von ihnen abstammen könnte"

 

 

 

In Nr. 2 des Stückes vom "Genesenden" meint er:

 

 

 

"Der Mensch nämlich ist das grausamste Tier.
Bei Trauerspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen ist es ihm bisher am wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hölle erfand, siehe, da war das sein Himmel auf Erden"

 


Die Botschaft des Zarathustra ist die Feststellung der Grausamkeit des "kleinen" Menschen, der mit seinen Veranlagungen immer wiederkehrt. Damit ist auch die ab und an wiederkehrende Frage geklärt, ob denn der Mensch etwa das „bessere Tier sei". Nein, er ist es nicht!

 

 

 

5.2.4 Antichrist (1888)

 

 

 

In Nr. 14 des Vorwortes des Werkes "Antichrist" gab er über den Menschen zu verstehen:

 

 

 

„Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung: Jedes Wesen ist, neben ihm, auf der gleichen Stufe der Vollkommenheit... Und indem wir das behaupten, behaupten wir noch zuviel: Der Mensch ist, relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte - freilich, mit alledem, auch das interessanteste!"

 

Im Werk Zarathustra machte Nietzsche die Tiere zu seinen besten Gefährten.

 

Dies war auch ein Schritt im Prozess der Umwertung aller Werte, nämlich den Menschen auf seine Bedeutungslosigkeit zurückzuwerfen, ihn auf die Stufe des Tieres hinunterzuziehen.

 

Ich denke, er hatte bis in die Tiefe erkannt, dass es gerade kein besonderes Verdienst ist,

 

Auch Denker der Jetztzeit vertreten die Auffassung, dass der Humanismus als Kulturmodell gescheitert sei und die Entwilderung des Menschen begonnen hat.

 

 

 

6. Mensch „schlimmer" als die Tiere?

 

 

 

Das sich seither bei verantwortlichen Menschen entwickelte Bild geht jedoch eine Zoomstufe weiter in das Auge des Hurrikans. Er frägt sich nicht mehr, ob der Mensch gleich schlimm oder schlimmer ist als Tiere. Dies ist jedoch auch eine bereits in den Genanlagen des Menschen vorgegebene Assoziation, weshalb sollen Tiere eigentlich schlimm sein, wäre die Gegenfrage. Soweit er dies dennoch tut, begeht er eine Herabwürdigung von Wesen dieser nur einen Welt.

 

Vielfach hört man die Bemerkung, „da könnte man zum Tier werden" oder falls dieses oder jenes passiert, „werde ich zum Tier".

 

Weshalb verweist der Mensch „Auf-das-zum-Tier-werden", wenn er sich grimmig und gefährlich darstellen möchte. Da er sich ansonsten so gerne mit dem Besitz von Vernunft schmückt, will er sagen, dass er ab diesem Zeitpunkt bereit ist, schlecht, also ohne Vernunft zu handeln. Diese Prägung ist bei ihm bereits tief verankert, gewachsen in Abfolgen von Generationen, tradiertes Wissen und Empfinden der Menschheit. Alles was im Rahmen dieses begrenzten „Tier-Seins" dann passieren kann, scheint er damit antizipativ entschuldigen zu wollen, da es ja nicht dem normalen „humanen" Verhalten entspringt.

 

 

 

7. Wertesysteme ineffektiv

 

 

 

An dieser Stelle möchte ich die Frage untersuchen, weshalb die mannigfaltigen menschlichen positiven Wertsysteme nichts entscheidendes zu einer Änderung des vereinnehmenden und ausbeuterischen Wesens beitragen konnten.

 

 

 

Solche Systeme sind etwa die 10 Gebote der Bibel, der Koran, das Tao-Te-King, der achtteilige heilige Pfad Buddhas, die Grundsätze der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, die Moralvorstellungen eines Epiktet in seiner Schrift „Handbüchlein der Moral" und viele andere.

 

 

 

Die vielfältigen Leitlinien, die sich der Mensch geschaffen hat und nach denen er sich streckt, scheinen mir bei heutigem Wissen ebenso unerreichbar wie die religiösen Fiktionsbegriffe des Christentums (Gott, Reich Gottes, Seelen, Geist, Sünde, Erlösung von der Sünde, Versuchung des Teufels, jüngstes Gericht, ewiges Leben).

 

 

 

Gerade im abendländisch geprägten Bereich zeigt sich die epochale Widersprüchlichkeit zwischen dem Schein der Bergpredigt, nachzulesen im 5. bis 7. Kapitel des Matthäusevangeliums und der gelebten Wirklichkeit der christlichen Oligarchisten und ihrer Anhänger.

 

 

 

Mir scheint, der Mensch hat sich zu seiner Selbsterhöhung ein an ethischen Wunschträumen des gedeihlichen Miteinanders ausgerichtete institutionelle und religiöse (metaphysisch transzendentale) Wertesysteme geschaffen, führt aber nach wie vor im Brustton narzistischer Vollkommenheit einen Distinguierungsfeldzug gegen das Andersartige, nämlich gegen die Tier- und Pflanzenwelt und auch gegen sich selbst. Alle diese Imperative stellen lediglich eine große glorifizierte Bühne dar, auf der aber sehr wenige Akteure spielen. Unter einer dünnen Schminke angeblicher Menschlichkeit wirken die ursprünglichen, tief verwurzelten mächtigen Affekte und Triebe, die ihren Ursprung in einer längst vergessenen Zeit haben.

 

 

 

 

 

Nietzsche hat dies genial durchschaut und erkannt, dass hinter der Fassade der Mildtätigkeit, der vermeintlichen Menschlichkeit und der Moral tatsächlich der Wille zur Macht steht. Dieser ist in der menschlichen Veranlagung so manifest, dass der Wille zur Macht überall lauert, darauf gerichtet, jegliche Schwäche zu nutzen, um die Sollensvorschriften in die Ecke zu stellen.

 

An dieser Stelle drängen sich mir zwei Erklärungen für Menschlichkeit auf:

 

 

 

8. Varianten der Menschlichkeit

 

 

 

Mir auffallend ist die Hinwendung des Menschen zum positiv besetzten Begriff im Sinne von „Hilfestellung geben", „Helfen" und „gedeihliches und friedliches Miteinander". Nachdem mir die Mechanismen der Abgrenzungsstrategien bewusst sind, ist es nicht verwunderlich, dass sich der Mensch intiutiv positiv und gut präsentieren möchte. Auch dieses Verhalten ist über Generationen hinweg sozusagen „angelernt". Wie dieser Mechanismus entsteht, zeigen sozialpsychologische Versuche mit Puppen, die noch vor der Abschaffung der Rassentrennung an Schulen in den USA im Jahre 1954 durchgeführt wurden. Dabei wurden weißen und farbigen Kindern Puppen mit weißer und brauner Farbe vorgelegt, die ansonsten aber völlig identisch waren. Die Kinder sollten nun mitteilen, mit welchen Puppen sie lieber spielen und welche Puppen möglicherweise böse seien. Fast übereinstimmend wurden von allen Kindern die braunen Puppen als böse bezeichnet, mit denen auch niemand spielen wollte. Genauso ist es mit dem Begriff Menschlichkeit. Das negativ besetzte Moment wird ausgeschalten, soweit möglich. In der Sozialpsychologie nennt sich dies „tendenziöse Apperzeption", Das Sehen mit der rosaroten Brille, das Ausblenden der Realität, soweit es nicht eigenen Vorstellungen entspricht.

 

 

 

So versuche ich nun eine Begrifflichkeit zu finden, die diese Gefahren miteinschließt.

 

 

 

Variante 1

 

Das was landläufig "Menschlichkeit" genannt wird, ist die oberste Schicht der menschlichen Kultur, dessen Häutchen jung schwach und kränklich ist, durchscheinend, noch nicht genügend verwurzelt und sich schnell zurückzieht, wenn das Urwesen Mensch mit all seinen Trieben und Affekten das von Freud beschriebene "Über-ich" samt seinen geschönten Wertvorstellungen verdrängt und von der Option Mensch im Sinne von „humanitas" zur Option Nicht-Mensch im Sinne von Barbarei umschaltet.

 

 

 

Variante 2

 

Das was landläufig "Menschlichkeit" genannt wird, ist die Wunschvorstellung eines positiven Wertesystems nach dem sich der Mensch seit der Reise aus der Barbarei streckt, dies jedoch unter weitest gehender Ausblendung der Realität, dass zu seinem Wesen auch das Negative gehört.

 

 

 

9. keine lineare Korrelation zwischen Vernunft und Menschlichkeit

 

 

 

9.1 Theodizeevarianten auf den Mensch angewandt

 

 

 

Die Ausgangslage, dass der Mensch oft schlecht handelt, hat etwas mit Vernunft zu tun.

 

Mir drängt sich die Frage auf, wie eigentlich der Begriff der Vernunft mit der Menschlichkeit verknüpft ist. Reduziert auf den Begriffsgehalt des Substantivs „Vernunft", sollte man glauben, dass diese das Steuerungsmittel sein müsste, die vom Menschen selbstgeschaffenen Sollensvorschriften, die sogenannten Imperative, zu 100 Prozent zu erfüllen. Beim ersten unschuldigen Blickkontakt mit dem Wort hat man das Gefühl, dass die Vernunft durchaus Bestandteil eines wohlschmeckenden Gerichtes sein könnte.

 

Wer wird sich schon hinstellen wollen und behaupten, dass die Gebote „Du sollst nicht töten, misshandeln, quälen, demütigen, sich auf Kosten anderer bereichern etc" unrichtig im Sinne von unvernünftig seien. Verständig urteilende Durchschnittsmenschen werden sich vielmehr darin einig sein, dass es vernünftig ist, solche Handlungen zu vermeiden.

 

So wie das Korn seiner Reife entgegenstrebt, sollte doch auch der Mensch der Vollkommenheit entgegenstreben im Sinn einer höheren Vernunft im Sinne von wertvoll oder edel. Dies erinnert mich an die Thematik bei der christlichen Theodizeefrage, die klären will, weshalb „Gott" das Schlechte zulässt.

 

 

 

Feststellung 1: Der Mensch ist vielleicht gar nicht gut, da er es ja unter strikter Anwendung der Vernunft sein könnte, es aber -egal aus welchen Gründen- nicht will.

 

Feststellung 2: Der Mensch ist gar nicht so allmächtig, also die Krone der Schöpfung, weil er zwar gut sein will, es aber nicht kann.

 

 

 

9.2 Experimentelle Betrachtungen

 

 

 

9.2.1 Hilfsorganisation

 

 

 

Ich werde beispielhaft anhand der Betrachtung der Hilfsorganisationen und zweier sozialpsychologischer Experimente darlegen, welch kränkliches Pflänzchen doch die Menschlichkeit ist.

 

Der Bürger X mag noch in echter Hilfsbereitschaft sein Geld spenden. Ab dem Tag der Zuständigkeit der Hilfsorganisation greift der Wille zur Macht zu. Die auf dem Markt der Mildtätigkeit buhlenden einzelnen Organisationen, die ja von Katastrophen leben, sind zwischenzeitlich Großkonzerne, die nach den Marktgesetzen geführt werden. Die in ihrer Führung herrschenden oligarchischen Systeme neigen, wie auch bei Politikern festzustellen, zur Selbstbereicherung. Ebenso die Rettungsdienste der Hilfsorganisationen, die an bestimmte Krankenhäuser gebunden sind. Sie haben keine Skrupel, einen Schwerverletzten 10 km weiter zu einem eigenen Vertragskrankenhaus zu befördern.

 

 

 

An dieser Stelle möchte ich selbst ein gedankliches Experiment vorstellen:

 

 

 

Eine fiktive Macht würde sämtliche Mitarbeiter einschließlich Familienmitglieder aller Hilfsorganisationen darüber abstimmen lassen, ob die Welt künftig völlig katastrophenfrei und frei von Hunger bleiben soll oder nicht. Dies hätte natürlich zur Folge, dass sich die Organisationen selbst abschaffen und die Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz verlieren würden, sollten die Ja-Stimmen die Mehrheit haben. Die Abstimmung wäre anonym und der Weltöffentlichkeit würde weder die Wahl selbst noch das Ergebnis bekannt.

 

Ich bin mir ziemliche sicher, dass die Erde auch weiterhin mit Katastrophen und Hungersnöten leben müsste und die Hilfsorganisationen auch weiterhin nach der üblichen Betroffenheitshype an den Geldbeutel der Gutmenschen appellieren könnten.

 

 

 

9.2.2 Milgramexperiment

 

 

 

Das Milgramexperiment ist die klassischste Studie, die im sozialpsychologischen Kanon zur Klärung der Frage durchgeführt wurde, wie es zu den Greueltaten der Nazis kommen konnte. Dabei wurde versucht, das Gehorsamkeitsparadigma gegenüber der Autorität einzugrenzen.

 

Bei dem 1964 an der Yale-University durchgeführten Experiment wurde die angebliche Menschlichkeit in eklatanter Weise ad absurdum geführt.

 

Den durchschnittlichen Versuchspersonen hätte die Vernunft gebieten müssen, das Experiment abzubrechen und ihrem Gewissen zu gehorchen. Statt dessen erlagen sie der Autoritätsgläubigkeit und führten die angeordneten fiktiven Befehle der Experimentatoren (Verabreichung von Stromschlägen) aus, die in der Wirklichkeit zu schweren Schäden geführt hätten.

 

 

 

9.2.3 Stanfordexperiment

 

 

 

Beim Stanford-Experiment von 1971 wurde vom amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo nachgewiesen, dass bei Menschen ein hohes Unterwerfungspotential aber auch Aggressionspotential vorhanden ist und wie sich die Gruppendynamik auswirkt. Dazu wurde eine fiktive Gefängnissituation nachgestellt und aus den Studenten wahllos Wärter und Gefangene gebildet. Die Personen identifizierten sich in kürzester Zeit mit ihren Rollen, viele „Wärter" zeigten sogar sadistische Züge, das Experiment musste nach 7 Tagen abgebrochen werden.

 

 

 

9.2.4 Zusammenfassung

 

 

 

Das Ergebnis des Milgramexperimentes war, das der „Kadavergergehorsam" der Nazis während des Zweiten Weltkrieges kein Resultat etwa der besonderen Charaktere der Beteiligten oder der deutschen Eigenart überhaupt war, sondern das Ergebnis der situativen Kräfte. Erschreckend war das Ergebenis, dass bei entsprechenden Voraussetzungen ganz normale Bürger bereit sind, Mitbürger schwerst zu misshandeln.

 

 

 

9.2.6 Kölmel-Experiment

 

 

 

Ein eigenes hypothetisches Gedankenexperiment -ich nenne es mal das Kölmel-Experiment- soll zur Einschätzung der eigenen Art beitragen, inwieweit Vernunft und Menschlichkeit korrelieren. Das Modell ist dabei jedoch ausschließlich auf Vermutungen angewiesen. Gleichwohl eröffnet es jedoch den Horizont. Es ist kalt wie Gletschereis und legt in brutaler Offenheit den noch herrschenden Antagonismus zwischen anlernbaren Tugenden wie Menschlichkeit (Ontogenese) und dem evolutionären Erbe unserer Vorfahren dar (Phylogenese) dar.

 

 

 

Ausgangslage wäre, dass jeder Mensch von einer übergeordneten Macht einen „Lebensschalter" erhält, mit dem er einen beliebigen anderen Menschen auf der Erde einfach als nicht existent auslöschen könnte. Die Tathandlung würde nicht bekannt und eine Bestrafung durch eine irdische Instanz würde nicht stattfinden.

 

Die Szenarien sind zahlreich. So könnten sich religiös verblendete Menschen aus Land A einen Namen aus dem Internettelefonbuch der Stadt B des Landes C aussuchen und diesen terminieren.

 

 

 

Nach einem anderen Beispiel könnte Ehepartner A den Ehepartner B mit dem nicht arbeitenden C betrügen, aus dem von B bezahlten Haus ausziehen und diesen danach auf Zugewinnausgleich, Nachscheidungsunterhalt und Versorgungsausgleich verklagen. In der Folge müsste das schöne Haus verkauft werden, nach dem Abstieg in eine 2-Zimmerwohnung an einer Hauptverkehrsstraße müsste B weiterarbeiten und läge nach Abzug der Unterhaltszahlungen noch kapp über dem Sozialhilfeniveau.

 

Wie würden sich alle B in der Bundesrepublik verhalten, könnte sie die Verschlechterung der Lebensumstände noch vor dem Scheidungstermin durch die Betätigung des Lebensschalters abwenden? Möglicherweise werden sich viele B sagen, es sei geradezu vernünftig. Sollte die Mehrzahl so reagieren, wäre es dann etwa genuin menschlich, den Schalter zu drücken?

 

Ich vermute, dass eine Umsetzung dieses Gedankenexperiments kulturübergreifend den Bestand der Spezies dramatisch vermindern würde. Ironischerweise würde dies dem Sinn der Erde entsprechen. Das Problem der Überbevölkerung, der Ressourcenverschleuderung und der Umweltzerstörung würde sich entspannen.

 

 

 

10. Menschlichkeit und Psychologie sowie Verhaltensforschung (Humanethologie)

 

 

 

Nachdem ich erkannt habe, weshalb die reine Vernunft zur Erlangung von Menschlichkeit nicht ausreicht, begreife ich, dass dies bei mir auch nicht anders ist.

 

 

 

Vielleicht muss man aber die Vernunft doch als Schlüssel betrachten und man hat nur noch nicht das richtige Gefühl dafür entwickelt, den Schlüssel zu gebrauchen. Die Vernunft ist für mich die Gewissheit, zumindest die zeitgenössischen Erkenntnisse bestimmter Wissenschaften zu reflektieren. So habe ich mich dazu in der Psychologie umgeschaut, die Wissenschaft, die eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte hat. Die Psychologie erklärt mir, weshalb der Mensch eben so ist, wie er ist, legt die Beschränkungen dieses Wesens schonunglos dar. Die Betrachtungen der aktuellen zeitgenössischen Perspektiven lichten den Nebel und erklären die verschiedenen Sichtweisen des Funktionierens. Eines der bedeutendsten Standardwerke „Psychologie" von Zimbardo/Gerrig, 16. Auflg. führt sieben Perspektiven auf:

 

die biologische Perspektive geht davon aus, dass psychische und soziale Phänomene auf biochemische Prozesse zurückzuführen sind

 

die psychodynamische Perspektive erklärt, dass Handlungen von ererbten Instinkten, biologischen Trieben und dem Versuch herrühren, Konflikte zwischen einerseits sozialen Anforderungen und persönlichen Bedürfnissen zu lösen. Hauptzweck von Handlungen ist die Reduktion von Spannungen. (Sigmund Freud, Verhalten als sichtbarer Ausdruck unbewusster Motive)

 

die behavioristische Perspektive ist ein wissenschaftlicher Ansatz, der das Feld der Psychologie auf messbares, beobachtetes Verhalten reduziert. Ziel ist die objektiv erfahrene Welt, wie der Mensch auf Umweltstimuli reagiert.

 

die humanistische Perspektive lehnte die psychodynamische und behavioristische Sichtweise ab und sieht Menschen als grundsätzlich gut an, die unter Verwendung des freien Willens nach Wachstum und Entwicklung des eigenen Potentials streben (ca. 1950.) Ziel sind die einzelnen handelnden Individuen und die subjektiv erfahrene Welt. Das versteht man auch landläufig mit den Bemerkungen „Ich geh zum Psychologen und setze mich auf die Couch".

 

die kognitive Perspektive erklärt jene Perspektive, die das menschliche Denken und wissensbasierte Prozesse betont, wie etwa Aufmerksamkeit, Denken, Erinnern, Erwartungen, Problemlösen, Phantasieren und Bewusstsein.

 

die evolutionäre Perspektive ist die Verbindung zwischen zeitgenössischer Psychologie mit der Biowissenschaft, also der Erkenntnis Darwins und beschreibt sowohl körperliche als auch geistige Anpassungsprozesse an spezifische Erfordernisse seit der Zeit des Pleistozäns.

 

die kulturvergleichende Perspektive beschäftigt sich mit interkulturellen Unterschieden in den Ursachen und Konsequenzen von Verhalten ( etwa: beeinflusst Kultur die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum spezifische Verhaltensweisen zeigt?)

 

Interessant ist nun, dass jede der sieben Perspektiven auf einem unterschiedlichen Satz von Annahmen beruht und zu unterschiedlichen Arten der Antwortsuche auf Fragen zum Verhalten führt. Letztlich erklärt sich dadurch die Frage, wie menschlich der Mensch ist. Konkret kann etwa auch jede Sichtweise das Wesen von Aggression und Gewalt erklären. Damit beschäftigt sich auch die Humanethologie (auch Verhaltensforschung oder Verhaltensbiologie genannt), nämlich die Übertragung der Verhaltensforschung bei Tieren auf den Menschen. Die Aggression entlarvte Konrad Lorenz als „Revierverteidigung". Gerade die heutigen Kriege zeigen auf, dass die intraspezifische Selektion noch nicht abgeschlossen ist. Dies ist menschlich und unmenschlich zugleich.

 

 

 

11. Fazit

 

 

 

Theoretische Gedanken sollten immer das Bett für eine Selbstbezogenheit bilden. Somit stelle ich mir also auch selbst die Frage, wie menschlich bzw. unmenschlich ich selbst bin.

 

Fehlverhalten, das sich innerhalb meines eigenen Mensch-Seins als Äußerung des Aggressionstriebes darstellt, erklärt mir die psychodynamische und evolutionäre Psychologie sowie die Humanethologie. Ich weiß also, dass ich etwas mitbekommen habe von meinen Urahnen, nämlich Instinkte und Triebe, deren Ausübung den Vorgaben des sozialen Umfeldes entsprechen sollen. Soweit ich nun in der Lage bin, eine Übereinstimmung der sozialen Vorgaben mit meinen persönlichen Bedürfnissen herbeizuführen, entstehen auch keine Spannungen oder Konflikte, die sich in schlechten oder „unmenschlichen Handlungen" abventilieren. Sollte es gelingen, auch anderen dabei oder dazu zu verhelfen, dürfte im Lichte dieser Erkenntnis eine Konditionierung hin zur Menschlichkeit vorliegen.

 

Wenn ich mich so umschaue bekomme ich das Gefühl, dass immer mehr Menschen ihre Situation instinktiv als nicht besonders menschlich empfinden. Dies geht auch mit dem Gefühl und der Frage einher, wie die Gesellschaft mit durchaus schlechtem Gewissen wegen offensichtlichen Schieflagen dennoch einfach weitermacht, immer aber noch im überzeugten Brustton, es sei menschlich und deshalb schon irgendwie vertretbar.

 

Menschlichkeit kann nicht etwa auf dem Papier von einem Parlament verordnet werden, wie ein Medikament dem Patient. Der Patient muss auch bereit sein, das Medikament einzunehmen.

 

Menschenwürde, Hilfsbereitschaft und Bereitschaft zu einem friedlichen Miteinander erfordert mehr als Bewusstsein, dass der Begriff in einem Grundgesetz steht. Es zeitigt die Notwendigkeit, dass bereits junge Menschen mit dem Ausleben der Begriffe beatmet werden, dass sie darauf neugierig werden. Nur aus Neugier entstand seinerzeit die Kraft für die Epoche der Aufklärung, die den dunklen Absolutismus überwunden hat. Lasst uns deshalb nach vorne schauen, aber immer auch auf die Zehenspitzen, denn man stolpert nicht über Berge, sondern über Maulwurfshügel, sagte schon Konfuzius.