Rudi Kölmel im Januar 2007 i.d.F. vom 01.01.2011

 

Was ist der Mensch wert


1. Einleitung


1.1 Allgemein

 

Diese Zeilen widme ich meiner Mutter. Ihr Tod war für mich der Auslöser, um mich intensiver mit der Frage zu beschäftigen, was für ein Wert der Mensch hat. Ich werde darauf noch näher zurückkommen.

Was bedeutet diese Fragestellung eigentlich, die wohl selten gestellt wird, obwohl sie jeden betrifft. Wer nimmt sich denn die Zeit, bei dem ganzen Hin- und Hergerenne sich die selbstbezügliche Frage des eigenen Wertes zu stellen. Weshalb wird die Frage gestellt, will der Mensch die Antwort wirklich wissen, wird er sie jemals ausloten können, weshalb stelle ich sie und weshalb erst heute?


Der Denkbereich des Selbstwertes ist angereichert mit einer weiteren Fülle assoziativer Begriffe, etwa Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Egoismus, Selbstliebe, Egozentrik, Solipsismus. Allen aber gemeinsam ist die Bewertung, die damit verbundene Etikettierung und Abgrenzung zu dem anders bewerteten. Die Wissenschaftsbereiche überschneiden sich, die sich mit diesen Begriffen beschäftigen, nämlich Psychologie, Philosophie und Soziologie.


Weshalb genügt der Mensch nicht sich selbst, weshalb muss da noch ein Wert hinzu kommen, weshalb wird überhaupt bewertet, war das schon immer so und wie haben sich die Einschätzungsmaßstäbe für Bewertungen geändert und so könnte man Fragen über Fragen stellen, die alle nach Antworten suchen und in diesem Prozess bereits wieder neue Fragen generieren.


Um einen Wert festzulegen, muss man eine Werteskala haben. Daraus geht schon hervor, dass man nicht isoliert bewerten kann, eine Bewertung ist immer eine vergleichende Betrachtung.


Der Mensch in der Alten Zeit hat anlässlich der ersten Gruppenbildung bereits Zwist ausgetragen wegen mehr oder minder wertvollen Jagdgebieten oder Wasserquellen. Der moderne Mensch hat sich eine Sozialisierung geschaffen, die ihn die Bewertungen lebenslang begleiten lassen. In der Schule werden Leistungen in Noten bewertet, der Wert von Häusern, Grundstücken und Autos wird geschätzt, sportliche Leistungen werden nicht geschätzt, sondern bewertet. Im Erreichen der zu erstrebenden Schönheit wird man von anderen eingeschätzt.


Es ist des Menschen Ding, von anderen hoch eingeschätzt zu werden.


Noch heute halten sich irgendwelche Völker oder Rassen anderen als überlegen im Sinne von wertvoller. Im Finanzwesen werden Unternehmen, von Analysten der Wert von Aktien bewertet. Firmen stellen auch Nutzwertanalysen an und vergleichen die Kosten von Maschinen mit den Kosten von Menschen usw. Etymologisch scheint es also einen Zusammenhang zwischen Bewerten und Schätzen zu geben. In der Physik werden Werte gemessen, etwa Höhe, Länge, Breite, Gewicht. Zum Teil werden Werte festgesetzt, etwa Grenzwerte für Schadstoffe, um sich die Qualität des Wassers schönreden zu können.

Die unterschiedlichen Wertfeststellungen zu bzw. von Menschen haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt, den Menschen als die linguistisch kleinste teilbare menschliche Einheit. Da Werteskalen immer auch ein Werk der Menschen sind, leiden sie. Sie leiden zuerst an der dünnen Luft der Unzulänglichkeit und schließlich am Zerfall.

Der Gesamtkomplex lässt sich in zwei Hauptbereiche trennen. Zum Einen in die Betrachtung, was der Mensch der Gesellschaft oder Einzelnen wert ist, also eine Betrachtung von außen, die sogenannte extrinsische Bewertung. Das sind die häufigsten Fälle.

Zum Anderen die nach innen gerichteten Wertfragen, die der Mensch sich selbst stellt. Diese zählen für mich zu der intrinsischen Betrachtung.

 

1.2 Forschung


Spätestens an dieser Stelle wage ich den Exkurs in die forschungswissenschaftliche Konzeption des Selbst unter Berücksichtigung neurobiologischer Erkenntnisse, um mir darzulegen, was ich da eigentlich erkannt habe und welche Folgen dies gerade für mich hat. Zunächst scheint unstrittig, dass die Umbruchzeit zwischen Moderne und folgender Postmoderne zu einer Verwerfung traditioneller Denk- und Lebensformen geführt hat, die einen tiefgreifenden Wandel sozialer Beziehungen zur Folge hatten. Hier haben sich (etwa nach Gergen 1996 „Das übersättigte Selbst“; siehe auch Morasch „Hirnforschung und menschliches Selbst“) Charakteristika herausgebildet:

 

1.2.1 Gefahr der sozialen Sättigung


Während im beginnenden 19. Jahrhundert das soziale Terrain der Menschen noch gefügt war, führten zwei große Wellen zu neuen Beziehungsformen. Zuerst waren dies die Eisenbahn, Postwesen, Auto, Telefon, Radio, Filme, Bücher und Zeitschriften, später dann Flugverkehr, Fernsehen und elektronische Kommunikation.

Die möglich gewordene Spezifierung und Intensivierung sozialer Beziehungen führt zu einem Strudel sozialer Reize mit der Gefahr der sozialen Sättigung.

 

1.2.2 Gefahr des bevölkerten Selbst


Gergen zufolge kommt es zu einem „Bevölkern des Selbst“. Er meint damit, dass durch die überaus hohe Zahl an Beziehungen, in die jeder eingebunden ist, der Mensch eine Vielfalt an mannigfachen, konkurrierenden oder einander zuwiderlaufenden Identitätspotentialen in sein „Selbst“ aufnimmt. Dies betrifft Wünsche, Werte, Ziele, Hoffnungen und auch Lebensstile.

Durch diese verschiedenen Identitäten, die ihre Spuren hinterlassen, entstehen in der Folge auch immer mehr Porträtierungen des „Selbst“, sogenannte Teilidentitäten, die im ungünstigsten Falle im Widerspruch zueinander entstehen.

So, damit kommen wir dem Resümee näher, das „eigentliche Selbst“ wird immer mehr verwässert und ist nur noch schwer oder fast gar nicht mehr auszumachen. Durch die Verinnerlichung fremder Lebensentwürfe droht die eigene Authentizität die Stabilität zu verlieren.

Einem unreflektierten Konsumieren von sozialen Kontaktmöglichkeiten gilt es also entgegen zu treten.

 

2. intrinsische Betrachtung, was der Mensch sich selbst wert ist


2.1 Allgemein


Ich beginne darüber nachzudenken, weshalb gerade die Dualität der Hektik der modernen Industriegesellschaft einerseits und das damit einhergehende Freizeitverhalten andererseits die Suche des Menschen nach dem „Selbst", dem „Ich" inflationieren lässt.


Selbsterkenntnis und der Wunsch nach deren Erlangung gehört meines Erachtens auch zu den Dingen, nach denen die Menschen schon immer gestrebt haben.

Als herausragendes Ereignis sei der Ausspruch am antiken Delphitempel „Gnothi Seautòn" - „Erkenne dich selbst" erwähnt.


Gleichlautend etwa ließ Cicero in „de finibus bonorum et malorum“ 5,16,44 die Übersetzung wissen: „Nosce te ipsum, erkenne dich selbst“.


Hierzu auch der Hinwurf eines der bedeutendsten Vertreter der silbernen Latinität (silbernes Zeitalter der römischen Literatur), Horazius Quintus Flaccus, der mit seinem „sapere aude" in epistula I 2,40 beglückte. Dies bedeutet in etwa „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" oder „Gebraucht euren Verstand".


Wiederum später gab Kant diesem Sinnspruch die Ehre in seiner berühmten Aufklärungsschrift von 1784 mit dem Titel „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung".


Eine einfache und zugleich erfrischend realistische Einschätzung gibt Goethe über das Finden des Selbst. In seinem Werk „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ von 1829 sieht er im Kapitel „Betrachtungen der Wanderer“ die Erkenntnismöglichkeit nicht in der Empirie, also dem Beobachten, sondern im Handeln.

„Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.“


In Nietzsches Zarathustra, diesem farbengeschwängerten Füllhorn der Prophetie verkündet Zarathustra im vierten Teil in Nummer 10 und 11 des Abschnitts vom „Höheren Menschen“ die Besinnung auf die eigene Stärke und das eigene Denken und Handeln. Nietzsches „Höherer Mensch“ führt das kant`sche Hinaustreten des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit konsequent fort.


„Wollt ihr hoch hinaus, so braucht die eignen Beine! Lasst euch nicht empor tragen, setzt auch nicht auf fremde Rücken und Köpfe".


In Nummer 11 mahnt er an: „Lasst euch nichts einreden, vorreden".


Im dritten Teil beschreibt Zarathustra den Genesenden, sich selbst. Er meint damit die Heimkehr, das Sich-Sammeln, die Bereitschaft, in die eigene Bestimmung einzukehren.

Der Genesende, Zarathustra, ist unterwegs zu sich selbst, danach fähig zu sagen, wer er ist.

 

2.2 Die Getriebenen und die Berufenen


2.2.1  Allgemein


Ich finde zwei Aspiranten meiner Neugier, die Getriebenen und die Berufenen. Die einen betreiben eine von außen gesteuerte Selbstschau, das sind die Getriebenen. Dann gibt es die anderen, die die Frage nach dem Selbst schon immer im Urgrund ihres Wesens gespürt haben, das sind die Berufenen.

Der große Unterschied der Selbstfrage in den alten Zeiten zur Jetztzeit ist, dass es damals keine kaufbare Selbstfindung gab.

Wer sich dafür interessierte, musste sich weitgehend selbst Gedanken dazu machen. Heutzutage ist dies anders, die Konsumflutung hat längst den unheilvollen Griff auf das Innerste des Menschen gerichtet, das „Selbst". Es gibt nahezu keine verbreitenden Medien mehr, in denen nicht mit Kursen, Büchern, Urlauben die Sehnsucht nach Selbstfindung, Selbsterkenntnis und Erleuchtung beworben wird. Im Gegenzug dazu gibt es immer weniger Menschen, die sich ihrer Wirkungsmächtigkeit aus eigenem Antrieb bewusst sind.

Eine außer Rand und Band geratene hyperthropierende Welle der Selbstfindung schwappt ähnlich einem Tsunami über die Menschen.

Deren Impetus findet sich oft im genuin menschlichen Nachahmungstrieb, getreu nach dem Motto: es ist gerade in, sich selbst zu finden, also versuch ich es auch mal.

Meine Neugier richtet sich darauf, weshalb dies so ist, dies früher nicht so gefragt war und weshalb dies im gleichen Umfange etwa in afrikanischen, islamisch geprägten und vielen anderen Gegenden des Planeten Terra nicht oder nur in untergeordnetem Umfange gefragt ist.

 

2.2.2  Die Berufenen


Als Berufene würde ich Menschen sehen wollen, die schon immer das klimatische „A priori" der qualitativen und reflektierten Suche in sich gespürt haben. Berufene können auch Menschen sein, die etwa durch exogene, von außen kommende Einflüsse die Initialzündung für eine qualitative Suche erhalten haben, etwa durch eine Krankheit, eine überstandene Krankheit oder durch den Todesfall eines Angehörigen.

 

2.2.3  Die Getriebenen


Dann noch die Gruppe der Nichtberufenen, die sogenannten Getriebenen, die sich vielfach durch latente psychische Labilität der Vereinnahmung durch Dritte nicht erwehren können.

Während die Spezies der A-priori-Berufenen eher auf eine aussterbende Art schließen lässt, sind die Getriebenen schon Gegenstand der Gesellschaften für Konsumforschung.

 

Brecht lässt grüßen, stell Dir vor, Du suchst dich selbst und Du findest dich gar nicht.

Bei Vielen ist der Reduktionismus bereits ein normales gesellschaftliches Phänomen.

 

Die vermeintliche innere Leere lässt eine Situation aufkommen, die mich an einen Supermarkt erinnert, eine unübersehbare Vielfalt von Selbstfindungsangeboten liegt vor den Menschen ausgebreitet.


Wie Hühnchen auf dem Hühnerhof picken sie sich mal hier mal da ein bisschen „Selbstfindung" aus dem schier unübersehbaren Angebot, kaufen sich ähnlich wie den Marsriegel im Supermarkt dann 10 Doppelstunden „Selbst-Findung". Man ist dabei natürlich nebenbei noch modern, weil dies ja dem Konvenient-Gedanken hin. Dies kommt von „bequem“ und entstammt dem Nahrungsmittelsektor. Dort möchte man es sich bequem machen, die Teigtäschchen sind bereits vorgekocht, in Folie eingeschweißt und in 2 Minuten essfertig, toll!


Genauso ist es bei den Selbstfindungssuchenden. Es ist ja so bequem, wenn man die 10 Doppelstunden „Selbst-Findung“ einfach kaufen kann. Man zückt die Checkkarte und bezahlt, im Supermarkt macht man es genau so. Man braucht sich dann auch nicht mehr selbst anzustrengen.


So ist es auch mit der „gekauften Selbstfindung“ Man erhält für die Bezahlung jedoch meistens keine erhellendes, das Bewusstsein erweiterndes perspektivisches Leichtsein, sondern ein am Kommerz ausgerichtetes Fertigprodukt.


Es ist rein wirtschaftliches Geschehen, die Anbieter sind hauptsächlich „Abfertigungsplattformen“, so wie viele Restaurants eben auch nur noch Fertigsaucen aus dem 30 Liter Eimer anrühren.


Die Hauptzielrichtung sind neben den Religionen auch überwiegend Erleuchtungsplattformen, die aus dem asiatischen Raum kommen. Weshalb eigentlich gerade fernöstliche Richtungen so eine Faszination auslösen? Ist es das Exotische, das Andersartige, das da so anziehend ist, die Exklusivität, mit der man sich selbst dadurch von anderen abgrenzen, vielleicht sogar erheben kann?


Daneben gibt es noch eine Unzahl selbstgekrönter Spiritualisten und schamanenhaftig angehauchter Geistheiler, die ihre angebliche Kraft in nicht wenigen Fällen aus einem wundersamen paulusähnlichen „Damaskuserlebnis“ beziehen, welches eine übergeordnete Macht natürlich nur ihnen zukommen ließ. Sie gehen mit ihrer „Begabung“ jedoch nicht wie Jesus in die Wüste und erzählen ihre Geschichte den Skorpionen. Nein, aufgrund ihrer altruistischen Veranlagung sind sie natürlich bereit, ihr Wissen den Bedürftigen weiterzugeben. Ihre Menschenliebe geht freilich nicht soweit, dies kostenlos zu tun.. Auch für die Erleuchteten gilt der alte römische Spruch „pecunia non olet“ oder „Geld stinkt nicht“, smile.


Ich vermute dass die grassierende Suche nach dem Selbst heute überwiegend in den übersättigten Wohlstandsnationen zu finden ist.


Genau an dieser Stelle bedarf es eines Exkurses, weshalb die Frage der Selbstfindung in gewissen Ländern kein Thema ist. In Gegenden, wo das Leben die Frage nach den Lebensmitteln für den nächsten Tag ist, entsteht aus diesem Naturexistenzialismus keine weitere Suche nach sich selbst. Dies ist auch ganz einfach zu erkennen, denn im Existenzialismus läuft die Authentizität des Ichs Hand in Hand mit der Erhaltung des „Seins“ in der Form der äußeren Hülle.


Jeder der glaubt, eine Selbstfindung zu benötigen, soll mal an eine Mutter aus der Sahelzone denken, die für sich und die Kinder aus einer 6 Kilometer entfernten Quelle jeden Tag 15 Liter Wasser auf dem Kopf balancierend nach Hause tragen muss. Diese Frau wird sich um „Selbstfindung“ keine Gedanken machen. Der Begriff ist für sie unwesentlich, unwirklich.


Trotz permanenten Zuwachses an Freizeit klagen immer mehr Menschen über eine ebenfalls zunehmende und unerträglich erscheinende Vereinnahmung durch ein vergesellschaftetes Bewusstsein. Die Schuldzuweisung trifft nun oft gerade die Strukturen, die die Ursache für die Freizeit sind, die „Arbeitswelt“, man fühlt sich ausgebeutet, verplant und gemobbt, nicht verstanden, leidet an Selbstzweifeln.


Der Getriebene neigt nun dazu, sich zu befreien, der Drang nach Freiheit ist übrigens eine anthropologische Grundveranlagung. Die Übersättigung der pluralistisch angebotenen Vielfalt führt letztlich sogar zum Überdruss an der Freizeit, es entsteht eine Sucht nach einem sinnstiftenden Wertesystem.


Dass an dieser Theorie etwas dran ist, zeigt sich daran, dass Fragen der Selbstfindung etwa auch in Staaten mit starker islamischer Glaubensbindung nicht besonders wichtig sind. Dies hängt einfach damit zusammen, dass dort die Religion die Anforderungen der anthropologischen Schutzfunktion erfüllt.


Bevor sie sich die modernen „Getriebenen“ diesen Fragen hingeben, haben sie möglicherweise schon versucht, wirklich qualitative beständige Wege zu gehen, sich eine neue Lebenskunst etwa literarisch zu erschließen, indem sie dieses und jenes Büchlein versuchten zu lesen, scheitern aber an der Minimalisierung des oft gigantischen Vorhabens, da sie vielfach keine Erfahrungen und Motive in sich entdecken, die die Ausdrücke der neuen Wege mit Sinn erfüllen könnten. 


Es ist einfach bequemer, sich den Einlassungen der vermeintlich alleine glückseligmachenden Sinnstifter zu ergeben. Diese entdecken dann plötzlich in den an völliger Antriebslosigkeit leidenden Menschlein irgendwelche verborgenen gewaltigen Energien, die ja natürlich nur sie mit ihrem System entdecken und mobilisieren können. Die Getriebenen merken es meistens nicht, dass sie sich eben gar nichts selbst finden, sondern nur gefunden werden, nämlich ihre Geldbörse wird gefunden.


Der Drang des Menschen nach Selbstfindung und Freiheit führt bei den Getriebenen zur unmerklichen Quadratur des Kreises, indem die Inanspruchnahme kommerzieller Selbstfindung die Pforte für den Wiedereintritt in die selbstverschuldete Unmündigkeit oder den Verbleibs in ihr, darstellt. Dies ist dann für mich ein Fall des klassischen Selbstbetrugs.


2.2.4  Meine Auffassung: Denkt selbst und tut selbst was


Die ontologische Hinterfragung des Substantivs Selbstfindung führt zum Selbst.

Der Mensch sieht sich seit der Zeit der Aufklärung als aufgeklärtes Subjekt, herausgetreten aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Weshalb hat die Zeit seit Kant eigentlich nicht ausgereicht, zu einem Handling zu gelangen, welches es ermöglicht, bei Sich-Selbst-Zu-Sein. Nebenbei bemerkt, ich bin der Auffassung, dass die Aufklärung noch nicht beendet ist, das wäre jedoch eine Betrachtung innerhalb des Fragenkomplexes der sogenannten Politischen Theorie.

Überhaupt, was setzt eine Selbstfindung eigentlich voraus, doch wohl, dass man etwas verloren hat. Wie soll so etwas aber möglich sein?

Kann man etwas, was man von Natur und seit der Geburt immer bei sich hat, nämlich „sich selbst“, überhaupt verlieren? Ich meine nicht. Dieses Verlieren ist oft eine exogene Erscheinung, nämlich ein von Fremdstrukturen gesteuertes Einreden.

Ich habe noch niemanden gefunden, der beweisen kann, dass er sich verloren hat, die medizinische Amnesie wäre die Ausnahme. Die Getriebenen haben vielleicht Liebeskummer, leiden am Tod eines geliebten Menschen, haben Bedrückungen aus der Vergangenheit oder Sorgen um die Zukunft, tatsächlich verloren und demzufolge finden, müssen sie sich jedoch wohl nicht. Auch das Argument von psychischen Störungen (ICD-10) kann mich nicht überzeugen, denn auch bei diesen Fällen handelt es sich um keinen Verlust, sondern nur um eine Änderung, eine Wandlung, ein Fließen zum Andersartigen hin.

Weshalb konsumieren die Getriebenen eine unreflektierte Fremdbestimmung?

Weshalb nutzen sie ihre eigene Selbstmächtigkeit nicht dazu, ihre ureigenste autonome Authentizität, die vor den Augen liegt, zu erfühlen. Wer als Treibsand der Wohlstandsgesellschaft nur „entgegennimmt", kann den Geist des eigentlichen Selbst nicht mehr berühren.

Ich meine, die Bereitschaft, in die eigene Bestimmung einzukehren erfordert eben auch die Bereitschaft zu einem Entvölkern des bevölkerten Selbst.

Für das Grundgefühl des In-der-Welt-Seins deshalb zuallererst meine Botschaft an die Getriebenen, gebraucht euren eigenen Verstand, lasst euch nicht lenken, das Selbst-Denken-Können steckt in euch .

Das sei dann euer Wert! Unter Kapitel 2.4 werde ich dazu Näheres ausführen.

 

2.3 Selbstliebe, Selbsterhaltungstrieb, Werteverschiebung, mein Selbst

2.3.1 Selbsterhaltungstrieb und Selbstliebe

 

Der oberste Wert, den der Mensch nicht verleugnen kann, ist ihm a-priori beigegeben. Es ist schlicht gesagt, der Selbsterhaltungstrieb. Dieser Selbsterhaltungstrieb ist das Gefäß des Menschen, das sich Eigenliebe nennt. Diesem obersten Wert dienen vor allem Schutz- und Nahrungstriebe.

Der für mich entgegen gesetzte Begriff der Selbstliebe ist der Altruismus. Marcus Aurelius setzte sich damit in Nr. 8 des Zweiten Buches der „Selbstbetrachtungen“auseinander und vertrat dabei die Auffassung, dass eine übertriebene Hilfsbereitschaft gegenüber anderen zu einer Entfremdung des Selbst führe.

„Es ist noch nie jemand unglücklich geworden, weil er sich nicht um das, was in der Seele eines andern vorgeht, gekümmert hat; aber diejenigen, die nicht mit Aufmerksamkeit den Bewegungen ihrer eigenen Seele folgen, geraten notwendig ins Unglück. Wer sich immer nur um andere kümmert und nicht um sich, lernt nie sich selbst erkennen.“

Interessant ist auch die anthropologische Unterscheidung Rousseaus, der im 2. Discours als positive Variante den Selbsterhaltungstrieb (amour de soi) im Naturzustand des Menschen verwirklicht sieht.

Seit dem Eintritt des Menschen in Kultur und Gesellschaft und dem Zwang zum vergleichenden Betrachten mit anderen ist dann seiner Meinung nach die negative und dünkelhafte gesellschaftliche Eigenliebe (amour propre) entstanden. Er sieht sich dann nicht mehr selbst, sondern mit den Augen der anderen, die ihn bewerten.


2.3.2 Werteverschiebung


Nun einige Beispiele für Werteverschiebungen:


a) Wasser-Gold-Wüste


Wohl fast niemand, wahrscheinlich auch nicht der durchschnittliche Ökoaktivist X- macht sich beim täglichen Duschen, Baden, Händewaschen über den Wert des Wassers Gedanken. Die Verfügbarkeit und Bequemlichkeit lassen solche Gedanken nur schwerlich aufkommen. X macht mit Y einen Saharatrip. X teilt sich sein Wasser nicht ein, hat alles verbraucht und findet plötzlich einen Kilobarren Gold. Y hat sich sein Wasser eingeteilt und hat noch 5 Liter. X stellt fest, ohne die 5 Liter Wasser von Y wird er die nächste Siedlung nicht lebend erreichen. Er befindet sich also in einer bedrohenden existenziellen Krise. Y möchte nichts abgeben, da er den Vorrat für sein eigenes Überleben benötigt. Die Todesangst löst bei X nun plötzlich einen Bewertungsprozess ein. Das früher achtlos verschwendete Wasser ist nun wertvoll. X bietet ihm im Tausch für Wasser die Übereignung seines Goldbarrens an. Y lehnt ab. Nur der Vollständigkeit halber möchte ich ein weiteres nicht erkleckliches Szenario aufzeichnen. Homo homini lupus est, der Spruch von Plautus, erwähnt von Hobbes im Leviathan, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Y könnte nämlich warten, wie lange X noch durchhält. Bei seinem Tode könnte er sich das Gold aneignen. Der Selbsterhaltungstrieb könnte andererseits X dazu bringen, Y zu töten, um sich dessen Wasser anzueignen. Wir wollen es offen lassen, wie es ausgehen würde.

Nun wollen wir die Ebene der Theorie verlassen und zwei lebensbezügliche Beispiele bemühen.


b)


X hat als Lebensziel ein Haus gekauft. Auf ihn kommt die Belastung einer Finanzierungslücke zu, sodass er mit seinem normalen Einkommen das Haus nicht mehr halten könnte. Deshalb nimmt er eine zweite Arbeitsstelle an.

In dieser Phase hält er die Bedrückungen aus, stellt sich ihnen. Nun erweist sich, dass dies immer noch nicht reicht. Er sieht im Geiste die Zwangsversteigerung und tritt in den Raum der Angst und Furcht ein, sein Lebensziel ist kurz davor, sich aufzulösen. Er ist nun vollkommen auf sich selbst zurückgeworfen und muss entscheiden, ob er eine dritte Arbeitsstelle am Wochenende annehmen oder das Haus verkaufen soll. Er erkennt, dass der größte Teil seiner Lebenszeit damit ausgefüllt wäre, für Steine zu arbeiten und kommt zum Ergebnis, das Haus zu verkaufen. Dabei hat er sich bei einem Abwägungsprozess davon leiten lassen, dass sein Lebenswert ohne das Haus höher ist als mit ihm. Er ist nun bereit, aus dem Raum des Existenzialismus hinauszutreten. Er hat es gelernt, seinen eigenen Wert im Verhältnis zum Wert von Steinen zu erkennen. Seine eigene Selbstmächtigkeit hat ihn zu diesem Schritt befähigt, man kann ihm gratulieren.


c)


Angenommen meine persönliche Zielvereinbarung wird dadurch geprägt, dass ich viel Freizeit für Hobbys (Ziel 1) brauche, gleichzeitig möchte ich aber viel Geld (Ziel 2) verdienen. Nun bekomme ich eine Arbeit angeboten, mit der ich zwar Ziel 2 verwirklichen, Ziel 1 jedoch überwiegend verfehlen würde.

Interessanterweise ist es so, dass -anthropologisch bedingt- die Besitzvermehrung als Affekt die stärkeren Reize auslöst. Sollte ich bei der Wesensschau zum Ergebnis kommen, dass der Wunsch nach Freizeit gegenüber dem Wunsch / Affekt nach Besitzvermehrung übermächtig ist, würde ich den Wunsch nach mehr Geld zurückdrängen. Vielleicht würde es mir vor dem endgültigen Aus einer der beiden von mir favorisierten Zielen gelingen, einen Kompromiss zu finden.

 

2.4  Das Selbst, was ist das?


2.4.1 Allgemeine philosophische Anmerkungen


Eingangs eine für mich wesentliche Feststellung!


Der Glaube, die eigene Wertfrage und das Wesen des Selbst  ohne die soziokulturellen Verflechtungen mit der Außenwelt lösen zu können, irrt.


Die Zielvereinbarung orientiert sich in der Regel an der herrschenden Ethik/Moral, die bereits weitgehendst vorgibt, wie der Mensch in bestimmten Situationen handeln soll. Moral belegt nämlich bereits ein weites Feld der angeblichen Freiheit mit Verboten und Geboten.

Der einzelne Mensch wächst als Kind durch die Erziehung in tradierte Werte hinein, deren Ausgestaltung eine außerordentliche Beliebigkeit aufzeigt, je nachdem, in welcher Kultur das Kind geboren wird.


Der durch Moralvorstellungen verplante Bereich ist vergleichbar mit dem dichten Unterholz eines Waldes, die sich als Korsettstangen erweisen können und die Namen „ich muss" und „ich soll" tragen.


Ich frage mich schon seit langem, weshalb der Mensch sich die Meßlatte seiner Verhaltensregeln, den sogenannten Wertebegriffen und Wertekanons im politischen und religiösen Bereich so hoch hängt.


Sie blieben Wunschvorstellungen von Theoriedesignern. Weshalb können sie die Werte ihrer Ideen (Grundgesetze, Verfassungsrechte, Bibel, Koran etc.) nicht tatsächlich leben?


Sich diese Konstrukte zur Selbstberuhigung hinzustellen, um bei Bedarf auf sie verweisen zu können, ist eine Seite. Die andere Seite jedoch bedeutet, tatsächlich danach zu leben. Damit tut sich der Mensch oft nicht nur schwer, sondern macht gerade das Gegenteil.


Dies sieht man gerade an den Werten, die als religiös induzierte Imperative bestehen. Die Antwort, weshalb der Mensch diese schöngeredeten und zurechtgemachten Regeln in Wirklichkeit nicht ausleben kann, liegt in der Phylogenese, der Gattungsgeschichte des Menschwerdungsprozesses, der tatsächlich von wenigen Dingen, etwa Angst, Furcht und Gier, maßgeblich geprägt ist.


Diese dem Menschen im Anthropologieprozess seinem Selbsterhaltungstrieb beigegebenen Affekte treiben ihn von den Wertekanons weg; wenn er nicht aufpasst.


Auch bei den Werten tritt wieder das heraklitische hervor, sie fließen, sie verändern sich. Diese Fähigkeit ist die Eigenschaft, die sozusagen den Werten anhaftet.


Wie eine Baumfrucht der Reife entgegenstrebt, sich verändert, ergeht es auch den Werten. Selbst vermeintliche festere Werte, die der Mensch etwa den Grundwerten (Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Europäische Menschenrechtskonvention) beimisst, verschieben sich. Manchmal geschieht dies schneller, manchmal langsamer.


Damit unterliegt auch der Mensch dem kosmischen Gesetz, dass eben alles von Menschenhand Geschaffene und Gedachte Verfallsmomente besitzen.


Soweit dies aber so ist, sich also alles verändert, kann es auch keine absoluten Werte geben. Dies ist auch ein treffendes Beispiel (Argument) für die Annahme, dass es überhaupt keine absolute Wahrheit gibt.


Wie kann ich trotz und gerade des vorgegebenen Rahmens wegen glücklich sein und wo finde ich noch unverplante Bereiche?


Genau hier ist der Ansatzpunkt, die Kuppe des Hügels, den man erst ersteigen muss, um sich des Preises, nämlich des Anblicks des weiten Horizontes gewiss zu werden. Wo und wie finde ich die Lichtung zum Weiden, zum Grasen, zum Verweilen, aus deren Wärme ich das wetterleuchtende Purpur besehen kann?


Insgesamt muss ich aufpassen, mich nicht der konjunktivischen Denkweise bezichtigen zu lassen. Das ist die Spezies, die Formulierungen des man „könnte, sollte, müsste" benützt, sich selbst aber von den Dingen, die man bei anderen erwartet, nie angesprochen fühlt.

Genau deshalb mache ich mich auf den Weg, dem „Ich“ näherzukommen.

 

2.4.2  Der Kern des Selbst


Ohne Kompass läuft man in Gefahr, im Kreis zu laufen und Philosophie fängt immer bei einem selbst an. Ohne die Überlegung, was ich eigentlich als Mensch bewirken möchte, kann ich mich nicht orten.

Mir –wie  Martin Heidegger- den Luxus einer Wortschöpfung gönnend, nenne ich das Bild, das eines Tages wie ein Geistkeim aus dem Bereich des Offenen auf mich zukam, die „Seinswesigkeit“.

Die Seinswesigkeit ist die Beschreibung all dessen, sozusagen die Essentien, was mein eigenes Wesen, also das Wesen meines „Seins“ ausmacht.


Um zum Kern meines höchstpersönlichen Seins vorzudringen, diesen zu orten, versuche ich alles zu subtrahieren, was von außen von mir erwartet wird, was man mir glauben macht, haben oder tun zu müssen. Dabei gehe ich soweit als möglich zurück, Richtung „unbeschriebenes Blatt“.


Dabei ist es auch wichtig, nach einem Vorschlag von Horaz, einem Vertreter der silbernen Latinität des römischen Zeitalters, zu handeln. Er beschrieb dies in der sogenannten horazischen Weinmetapher der Ode Karmen 1,11 damit, den Wein zu klären und meinte damit die Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen.


Mich inmitten dieses Prozesses befindend, wird mir klar, dass mein Selbst sich wehren muss, dass ich immer mehr Gips der abgetrockneten Erwartungen anderer an mich abschlagen muss, um mich ureigenst zu erkennen. Dies ist in etwa auch vergleichbar mit dem flüssigen Erdkern, der von der äußeren erkalteten Hülle umgeben wird. Genau so versuche ich meinen Kern zu erkennen.


Seneca hat diesen Gedanken sehr einfach und überaus eindringlich in Kapitel 3 seines Werkes „de brevitate vitae“ -Von der Kürze des Lebens“ beschrieben. Nach einer Aufzählung, wie viele Dinge dem Individuum die zu nutzende Zeit rauben können, resümiert er, dass man in die Gefahr laufe, zu sterben, ehe man reif ist.

 

So denke ich, dass ein reifer Mensch mit sich selbst einen Freundschaftsvertrag geschlossen haben sollte.


Also muss ich zuerst eine Analyse machen, die darauf abzielt, in Erfahrung zu bringen, was meinem Wesen als Individuum entspricht.


Zu aller erst stelle ich wohl fest, dass ich „bin", sozusagen „da bin". Das Wesen meines Daseins ist also meine Existenz. Die Existenz nötigt mich, veranlasst durch den Selbsterhaltungstrieb, meine körperliche Hülle aufrechtzuerhalten.


Im Wesentlichen muss ich vier Dinge tun. Ich muss atmen, damit ich nicht ersticke. Ich muss essen, um nicht zu verhungern und trinken, um nicht zu verdursten. Zu allerletzt muss ich sterben, weil das Weltganze zur Beendigung seines und meines Zyklus dies so vorgesehen hat.


Was habe ich da eigentlich gefunden? Ich würde sagen, nichts anderes wie die Milliarden, die vor mir gegangen sind.


Es sind sozusagen die Außenecken meines „Ich-Spielplatzes“ oder das Wohngebäude des Lebens.

 

Es ist nun meine Aufgabe, die Wohnräume sinnvoll einzurichten und zu nutzen.

In diesem Bereich habe ich viele Spielräume, die es auszugestalten gilt.

 

Auf diesem Denkweg wage ich nun eine Definition:


„Mein Ich ist die Summe von Erfahrungen, welches ständig neue Erfahrungen generiert und sich von einem in der Vergangenheit liegenden Erscheinungszeitpunkt zu einem in der Zukunft liegenden Auflösungszeitpunkt hin fortbewegt.“

 

2.4.3 Freundschaftsvertrag mit sich selbst


Durch das Erkennen des Ich- Spielplatzes kenne ich also erst die Arena, in der ich handeln kann.


Rousseau beschrieb im Zweiten Teil seines 1755 erschienenen Werkes „ Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen", dem sogenannten 2. Discours, die Freiheit und das Leben als die konstitutiven Elemente des menschlichen Daseins.


Soweit ich meine soziokulturellen Verstrickungen als vorgegebene Bedingtheiten vorfinde und die Möglichkeiten in der Freiheit erahnen kann, gilt es nun, diese beiden Bereiche um mein eigenes Wesen zu einer ménage à trois zu erweitern.


Diese Sichtweise erleichtert es mir, herauszufinden, was meinem Wesen entspricht und im Rahmen einer intrinsischen Selbstschau ein internes Wertesystem auszubilden.


Dieses Wertesystem, meine „desiderata rokula" stellt sozusagen die Zielvereinbarung meines höchstpersönlichen Lebens dar.


Nach Jahren meines Seins reflektieren diese wenigen Sätze den Freundschaftsvertrag mit mir selbst.

Dieser Freundschaftsvertrag ist nun die Ortung der Lichtung, die mir den wetterleuchtenden Blick des Horizontes ermöglicht.

Er hat noch eine wesentliche Wirkung, ich werde in gewissen Grenzen zu meinem eigenen Schöpfer.

 

2.4.4   Reflektion und Überprüfung des Freundschaftsvertrages mit sich selbst


Bisweilen wird die im Freundschaftsvertrag mit sich selbst getroffene Zielvereinbarung auch von exogenen Faktoren, etwa Belastungen, auf die Probe gestellt. Diese Belastungen können etwa Ängste, Befürchtungen oder Zweifel auslösen.


Die Qualität des Wertesystems wird sich gerade in solchen Situationen beweisen müssen.

 

Damit sind wir bereits mitten in der Existenzphilosophie, die davon ausgeht, dass die bedrängenden Faktoren Angst, Furcht, Zweifel, Besorgnis, Trauer  etc. zunächst ausgehalten, also nicht verdrängt, werden sollen.


Dieses Aushalten kann in wünschenswerter Weise zur Existzenzerhellung beitragen, dem Einzelnen sein „Selbstsein" bewusst zu machen und an dessen Verwirklichung zu appellieren. Das Aushalten negativer Faktoren ist eine Grenzerfahrung, wo der scheinbare Halt in der äußerlichen Daseinsgeborgenheit zerbricht und man als Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird.

Das Lösen dieser Belastungen ist gleichbedeutend damit, dass man als Mensch gewachsen ist, reifer wurde, sich seines Wertes bewusst wurde.


Aus der Wirtschaft kennen wir den Begriff Controlling. Ein Steuerungselement, welches sich auch mit Fragen der Einhaltung vorgegebener Bedingungen beschäftigt.

So in etwa muss man auch den Freundschaftsvertrag mit sich selbst sehen. Hieraus ist eindeutig  ersichtlich, dass der Kern des Selbst nichts Statisches, sondern etwas Fließendes ist. Er ist  für das Subjekt des Kerns eine immerwährende Aufgabe.

Konkret bedeutet es, wenn ich etwa nachhaltige Handlungen unternehmen muss, zu hinterfragen, ob dann gerade dieses Sein in der Form der zu treffenden Handlungen meinem  Wesen entspricht, also meinem Freundschaftsvertrag entspricht.


Entsprechen die Handlungen oder die daraus resultierenden Handlungen nicht meinem Wesen, sollte ich sie unterlassen. Entsprechen sie meinem Wesen, kann ich sie ausführen, wobei in Grenzbereichen Kompromisse möglich oder sogar notwendig sind.

Interessanterweise  ist dies ein philosophischer Ansatz, der bereits in der vorsokratischen Antike geübt wurde. So erfuhr Seneca von seinem Lehrer Sotion von der Reflexion, also der Aufbereitung der Geschehnisse des gerade abgelaufenen Tages. Jedoch auch Sotion griff auf Quintus Sextius und dieser wieder auf die Phytagoreer zurück (sh. auch Seneca, de ira 36,1-3 oder auch cicero, Cato major de senectute 38).


Damit habe ich einen Weg gefunden, mich sozusagen von meinem inneren Geist beraten zu lassen. Ich frage mich dann, ob das Tagewerk so gut und richtig war, mein Tun nicht hätte vielleicht anders sein sollen. Es beinhaltet auch die Kraft, zu entwickeln oder zu spüren, morgen vielleicht einiges besser zu tun. Es ist eine Art Navigationssystem, das die Position überprüft und mich dazu befähigt, mit Gelassenheit ins Elysium hinüberzuwechseln, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist.


finis coronat opus!

 

3. Extrinsische Betrachtung

 

Innerhalb der Betrachtung kann man trennen in die religiöse Betrachtung, die in früher Zeit die Ungleichheit entweder direkt begünstigte oder bei offensichtlicher Ungleichbehandlung diskret wegschaute und in die politische bzw. gesellschaftliche Betrachtung. Die politische Betrachtung ist ein Teil der politischen Theorie, die sich seit Platons politeia entwickelte. In die geschichtliche Betrachtung, in die ich meine Überlegungen gerne mit einbeziehe, untersuche ich mit Vorliebe auch die Wirkungen des Alten und des Neuen Testaments, da sich hieraus die größten Auswirkungen auf das Abendland ergaben, dem Kulturkreis, dem ich selbst angehöre.


Gerade die religiösen Imperative bieten die Chance, im Nachinein die Wertigkeiten der damaligen Kultur im Nahen Osten zu Sklaven, Frauen, Tieren und Sachen anzustellen, um daraus Schlussfolgerungen für die Moral und Ethik der Jetztzeit zu ziehen.

Von größtem Interesse erscheint mir der Komplex, wie der Mensch die Sklaverei beurteilt hat, wie die Sklaverei früher beurteilt wurde und wie es zu Verschiebungen kam. Die Bewertung der Sklaverei ist dabei durchaus exemplarisch für viele andere Bereiche der Ethik und Moral.


Die Sklaverei ist der Zustand, der für mich als der am meisten „Entmenschlichte“ gilt und dem Freiheitsdrang am meisten entgegensteht.


Die Freiheit gehörte zu den Werten, die dem Menschen seit jeher mit am meisten wert war. Deshalb ist es von größtem Interesse, herauszufinden, weshalb dem Menschen die Freiheit anderer so wenig wert war, dass Sklaverei entstehen konnte.


Die Klärung dieser Frage führt auch zum Weg des Wertes von Ethik und Moral an sich.

Soweit es nun offenbar früher gar keine Zweifel auslöste, ob Sklaverei richtig oder falsch, gut oder böse sei, stellt sich doch im Nachhinein die Frage, weshalb das Wort Ethik eigentlich fast immer positiv besetzt ist. Die Sklaverei stellt sich bei heutiger Betrachtung als Gesinnungsunwert dar. Dies lässt vermuten, dass in der Ethik der Jetztzeit auch noch Gesinnungsunwert versteckt ist, der sich einst der Kritik der späteren Generationen stellen muss. Diese Erkenntnis hat mich zunächst erahnen lassen, dass Ethik oder Moral nichts an sich Wertvolles ist, da sie so sprunghaft ist, wie das Wetter auf dem Dachstein, der Beliebigkeit unterworfen ist.

 

3. 1  Altes Testament


Das alte Testament bietet eine eindrucksvolle Möglichkeit, Wertigkeiten der damaligen Kultur im Nahen Osten zu Sklaven, Frauen, Tieren und Sachen im Nachhinein zu betrachten. Soweit ich zitiere, betrifft es die Einheitsübersetzung, wie sie auch für den Schulunterricht zugelassen ist.

 

3.1.1  Zweites Buch Moses, Kap 21 Vers 2-11, Umgang mit Sklaven


Das Thema bietet gleichzeitig auch die Möglichkeit, die Moralität der Imperative zu betrachten. Nun, der gute Gott befand die Sklaverei für rechtens, also die Ausbeutung eines Menschen für die Dauer von sechs Jahren. Die weitere Schilderung in Kapitel 21 Vers 5 gehört wohl eher in ein neuzeitliches BDSM-Studio, statt in einen Rechtsgebungsakt. Darin wird das Verfahren beschrieben, wie der Sklavenhalter mit dem Sklaven, der nicht frei sein möchte, verfahren soll. Der Sklave soll mit einem Pfriem durch sein Ohr an einen Türpfosten genagelt werden. Das soll dann die lebenslange Bindung an den Sklavenhalter besiegeln. „ Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre Sklave bleiben, im siebten Jahr soll er ohne Entgelt als freier Mann entlassen werden.3 Ist er allein gekommen, soll er allein gehen. War er verheiratet, soll seine Frau mitgehen.4 Hat ihm sein Herr eine Frau gegeben und hat sie ihm Söhne oder Töchter geboren, dann gehören Frau und Kinder ihrem Herrn und er muss allein gehen.5 Erklärt aber der Sklave: Ich liebe meinen Herrn, meine Frau und meine Kinder und will nicht als freier Mann fortgehen,6 dann soll ihn sein Herr vor Gott bringen, er soll ihn an die Tür oder an den Torpfosten bringen und ihm das Ohr mit einem Pfriem durchbohren; dann bleibt er für immer sein Sklave. 7 Wenn einer seine Tochter als Sklavin verkauft hat, soll sie nicht wie andere Sklaven entlassen werden.8 Hat ihr Herr sie für sich selbst bestimmt, mag er sie aber nicht mehr, dann soll er sie zurückkaufen lassen. Er hat nicht das Recht, sie an Fremde zu verkaufen, da er seine Zusage nicht eingehalten hat.9 Hat er sie für seinen Sohn bestimmt, verfahre er mit ihr nach dem Recht, das für Töchter gilt.10 Nimmt er sich noch eine andere Frau, darf er sie in Nahrung, Kleidung und Beischlaf nicht benachteiligen.11 Wenn er ihr diese drei Dinge nicht gewährt, darf sie unentgeltlich, ohne Bezahlung, gehen." III.1.b Zweites Buch Moses (Exodus) Kap 21 Vers 20,21 Der gute Gott gibt Moses auf, den Menschen mit dem Bundesbuch das Recht zu bringen. Dabei lässt er seine Schäfchen unter der Rubrik <Körperverletzung durch Menschen> wissen, dass dem Sklavenhalter nichts passiert, sollte er seinen Sklaven mit dem Stock foltern und der Sklave erst nach 2 Tagen sterben. Sollte er jedoch vorher sterben, soll gerächt werden. Versteht sich von selbst, dass der gute Gott mit Rache natürlich nicht die Rache meinte, die bei der Herbeiführung des Todes eines Gläubigen ausgelöste. Also ein Sklave löste damit nicht die Folgen von Kap. 21, Vers 24 aus, das berühmte Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß. Er war ja eigentlich nichts wert. „20 Wenn einer seinen Sklaven oder seine Sklavin mit dem Stock so schlägt, dass er unter seiner Hand stirbt, dann muss der Sklave gerächt werden.21 Wenn er noch einen oder zwei Tage am Leben bleibt, dann soll den Täter keine Rache treffen; es geht ja um sein eigenes Geld."

 

3.1.2  Zweites Buch Moses, Kap 21 Vers 32, Wert von Menschen


Vers 32 klärt uns darüber auf, welche Schadensersatzpflicht die Tötung eines Sklaven durch ein Tier des Eigentümers auslöst, um dann im Matthäusevangelium zu begreifen, dass die Hohepriester dem Judas für den Verrat Christi nicht den Preis für einen freien Bürger, sondern nur den Preis für einen Sklaven, eben diese dreißig Silberschekel, bezahlten.


 „32 Stößt das Rind einen Sklaven oder eine Sklavin, soll der Eigentümer dem Herrn dreißig Silberschekel zahlen; das Rind aber soll gesteinigt werden."

 

3.1.3  Drittes Buch Moses (Levitikus), Kap 27-34


Wer glaubt, die Ablösungen gibt es erst bei Luther, hat weit gefehlt. Das dritte Buch Moses regelt in Kap. 27-34 die geldmäßige Ablösung von Gelübden und Weihegaben. Das Instrument für die Bewertung der Ablösung ist die Schätzung. Hier kommt also das Moment der Schätzung ins Spiel.

Immerhin war dem guten Gott -vor dem ja angeblich alle gleich sein sollen- die Frau gerade etwas mehr als die Hälfte des Mannes wert. Dafür hat er diese Proportion, mit der es sich leichter rechnen lässt, bei der Bewertung von Jugendlichen zwischen 5 und fünfzehn Jahren wieder hergestellt, die Jungen sind doppelt soviel wert als Mädchen. Im Kontext zu Kapitel 21 Vers 32 bedeutet die Wertfeststellung von 30 Silberschekel für eine Frau, dass dieser Preis genau dem Preis für einen Sklaven entspricht.

Na ja, einige behaupten, Nietzsche sei ein Frauenfeind gewesen. Dies glaube ich in einer gesonderten Betrachtung hinreichend widerlegt zu haben. Bei Gott würde mir dies nicht gelingen.

Weshalb hat sich der gute Gott aber als Frauenfeind erwiesen, hatte er dies nötig?

„Der Herr sprach zu Mose:1 Rede zu den Israeliten und sag zu ihnen: Will jemand ein Gelübde für den Herrn einlösen, das er nach dem üblichen Wert einer Person abgelegt hat,3 so gilt für einen Mann zwischen zwanzig und sechzig Jahren ein Schätzwert von fünfzig Silberschekel, nach dem Schekelgewicht des Heiligtums, 4 für eine Frau ein Schätzwert von dreißig Schekel,5 für einen Jugendlichen zwischen fünf und zwanzig Jahren, wenn es ein Junge ist, ein Schätzwert von zwanzig Schekel, wenn es ein Mädchen ist, ein Schätzwert von zehn Schekel,6 für einen Knaben zwischen einem Monat und fünf Jahren ein Schätzwert von fünf und für ein Mädchen ein Schätzwert von drei Silberschekel,7 für einen Mann von sechzig und mehr Jahren ein Schätzwert von fünfzehn und für eine Frau ein Schätzwert von zehn Schekel.8 Ist derjenige, der das Gelübde gemacht hat, nicht in der Lage, den Schätzwert zu entrichten, dann soll er die Person dem Priester vorstellen. Dieser soll den Schätzwert nach Maßgabe dessen, was der Gelobende aufbringen kann, feststellen."

 

3. 2 Neues Testament

3.2.1  Matthäusevangelium, Kapitel 7 Vers 12, Goldene Regel, 63 n.Chr.


Wir sehen aus der Goldenen Regel, dass man anderen  soviel Wert entgegenbringen soll, wie man selbst wert sein möchte.

„Alles was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten."

Im Umkehrschluss sind im Matthäusausspruch aber wohl Sklaven nicht gemeint, sonst hätte es ja keine gegeben. Da man ja nicht selbst versklavt werden will, hätte es demnach bedeutet, dass man auch keine anderen versklaven soll.

 

3.2.2  Matthäusevangelium, Kapitel 26 Vers 15, Verrat des Judas


„14 Darauf ging einer der Zwölf namens Judas Iskariot zu den Hohenpriestern15 und sagte: „Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Jesus ausliefere? Und sie zahlten ihm dreißig Silberstücke.16 Von da an suchte er nach einer Gelegenheit, ihn auszuliefern."

 

3.2.3  Lukasevangelium, Kapitel 17, Vers 7-10, Das Gleichnis vom unnützen Sklaven

„7 Wenn einer von euch einen Sklaven hat, der pflügt oder das Vieh hütet, wird er etwa zu ihm, wenn er vom Feld kommt, sagen: Nimm gleich Platz zum Essen? 8 Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Mach mir etwas zu essen, gürte dich und bediene mich; wenn ich gegessen und getrunken habe, kannst auch du essen und trinken. 9 Bedankt er sich etwa bei dem Sklaven, weil er getan hat, was ihm befohlen wurde?

10 So soll es auch bei euch sein: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan."

 

3.3 Zusammenfassung Altes und Neues Testament


Im Gegensatz zum alten Testament scheint der Mensch, hier Jesus, nicht mehr 50 Silberschekel, sondern nur noch etwa Preis für einen Sklaven, also 30 Silberlinge, wert zu sein. Ein Sklave als Mensch ist eigentlich nichts wert, der Sklave war ausschließlich Wertschöpfungsfaktor. Innerhalb der Sklaven werden nur die hebräischen Sklaven beschrieben, die 6 Jahre lang ohne Entgelt ausgebeutet werden dürfen. Andere Sklaven, etwa arabische, hat Gott Vater nicht beschrieben. Für diese war eine Freilassung nach der sechsjährigen Frist (Exodus 21,2) anscheinend gar nicht vorgesehen. Es ist geradezu paradox, durch Exodus Kapitel 21 Vers 20 sollte wohl nur die Wertminderung, also die verminderte Sklavennützlichkeit, nicht aber der Unwert der Körperverletzungsstraftat selbst, bestraft werden. Weshalb drängt sich mir der schale Geschmack eines perfiden Gesinnungssystems auf, dass die Strafbewehrung entfallen solle, soweit sich der geschädigte Sklave nach den erlittenen Torturen noch ein oder zwei Tage hinquält, bevor ihn der Tod erlöst. Soweit dies aber der gute Gott ist, wie äußert sich dann der zornige Gott des Alten Testaments? Ist diese göttliche Geschichte der numerischen Bewertung von Menschenleben wirklich göttlich? Göttlich ist doch das alleinige Gute, Wahre und Edle. Wo kommt es eigentlich her, wenn so viele behaupten, vor Gott seien alle gleich und er beurteile den Wert des Menschen unabhängig davon, was er ist , was er kann und was er tut. Die Herkunft ist einfach zu erklären. Leider ist es eben auch im religiösen Bereich wie so oft, viele reden mit oder wollen mitreden, haben aber die Bibel entweder gar nicht oder nur bruchstückhaft gelesen. Sie plappern unreflektiert nach, was sie irgendwann in der Jugend von anderen Menschen erzählt bekamen.Dabei darf ich noch darauf hinweisen, hat sich etwa Gott, seit er seinen Sohn auf die Erde geschickt hat, grundlegend geändert, unterlag er etwa einem Gesinnungswandel oder hat er seine an Moses übergebenen Gesetze geändert oder gar widerrufen? Das wird man mit der christlichen Argumentationsterminologie doch wohl verneinen dürfen. Dies würde nämlich voraussetzen, dass er sich zuerst geirrt hätte, was ihm als Allwissendem natürlich nicht unterlief. Somit darf als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass diese alten Gesetze und die getroffenen Aussagen und unterschiedliche Bewertungen von Menschen fortbestehen. Soweit diese fortbestehen, verbleibt es letztlich bei der Ungleichheit der Menschen hinsichtlich ihres Wertes, somit können sie vor Gott auch nicht gleich sein. Diese alttestamentarischen Niederlegungen entsprachen durchaus der damaligen Kultur. Ein „echter Gott", sollte er das absolut Gute, Edle und Allmächtige präsentieren wollen, hätte nie Regeln aufgestellt, die es erlaubt hätten, Menschen als Sklaven zu halten. Er hat es aber getan, meine Frage daher, ist das dann gut und edel oder eher das Gegenteil. Die Tatsache, dass das alttestamentarische Bundesbuch im Konsens mit der Sklaverei steht, lässt berechtigterweise die Frage entstehen, ob hier nicht doch sogenannte Gottesmacher am Werk waren, die es natürlich peinlich vermieden, sich durch das Verbot der Sklaverei der eigenen Machtstrukturen zu berauben. Sie konnten sich im allgemeinen gerade noch dazu versteigen, entweder die Versklavung von Angehörigen der eigenen Glaubensrichtung abzulehnen oder einzuschränken, während man die Sklaverei der sogenannten Ungläubigen uneingeschränkt rechtfertigte. Eine solche Handlungsweise entsprach eben der damaligen Ethik oder Moral. Damals betraf Ethik auch schon die Frage, wie der Mensch handeln solle. Die nächste nicht ausbleibende Frage ist natürlich, wie Jesus Christus sich zur Sklaverei und Wertgleichheit stellte, welche umwerfenden Neuigkeiten sich ergaben, nach denen die Menschen etwa gleich viel wert seien.

Weit gefehlt. Jesus hat erkennbar nichts gegen die Sklaverei unternommen. Auch in seiner Zeit entsprach es den soziokulturellen Gepflogenheiten, dass es Sklaven gab. Sklaven gehörten damals zum normalen Leben des Mittelstandes, wie heute die Waschmaschine, der Geschirrspüler, das Bügeleisen oder das Auto. Weshalb gerade er, der die Botschaft der Versöhnung verkündigte, nichts für die Abschaffung der Sklaverei unternahm, hat meines Erachtens eher mit dem Willen zur Macht zu tun. Wahrscheinlich hätte es das schnelle Ende seiner Mission bedeutet, wäre er ernstlich gegen die Sklaverei vorgegangen.

Darüber hinaus kann Lukas 17,10 sogar als ein Aufruf zum Sklavendasein gewertet werden, wenn auch nur in religiöser Sicht. Die Formulierung „So auch ihr" bedeutet, dass auch die Herren, die Jünger und alle Gläubigen zu Sklaven, nämlich zu Sklaven Gottes, werden sollen. Genauso wie die weltlichen Sklaven sollen die religiös-geistlichen Sklaven die Arbeit verrichten und hierfür keinen besonderen Dank erwarten. Nach Lesart Jesus vergilt Gott das Sklavendasein des Menschen im geistigen Bereich mit dem ihnen geschenkten Glauben, wie der Herr seinen Sklaven Essen, Trinken und Wohnstatt gewährt. Jesus hat sich weder für die Gleichwertigkeit von Sklaven noch für die Gleichberechtigung von Frauen eingesetzt hat. Seine einseitige Positionierung zeigt sich darin, dass er in den Zwölferkreis der Apostel weder Frauen noch Sklaven berufen hat. Merkwürdig mutet dies doch wohl an, dass der Sohn Gottes in seinen Lehren so gar nichts von sich gab, welches das unwürdige Leben der Sklaven betraf. Dies sollte einem römischen Staatsmann und Philosophen vorbehalten gewesen sein, der 1 Jahr jünger als Jesus war, Seneca.

Darauf, wie die Kirche als Organ des Christentums in der Zeit nach Jesus mit Sklaven umgegangen ist, werde ich noch zurückkommen.

Beim wirklich wertfreien Bedenken der Sklavereifrage, zu der sie aber gar nicht willens sind, müssten doch selbst hartgesottene Religionsaktivisten zum Ergebnis kommen, dass sie künftig beim Gebrauch des adjektivischen Attributs des guten oder lieben Gottes etwas sorgsamer umgehen sollten.

 

3.4 hellenistische und römische Antike


Für die Betrachtung der Frage, was der Mensch der Gesellschaft wert ist, möchte ich natürlich auch das Ursprungsland der klassischen Philosophie beleuchten. Die hellenistische Antike entspricht hinsichtlich der extrinsischen Bewertung des Menschen der alttestamentarischen Sichtweise. Zeitlich liegen die ersten Vorsokratiker ( ca. 500 v. Chr.) in etwa auf der gleichen Zeitschiene wie die alttestamentarischen Bücher der Chroniken, Esra, Nehemia, Esther und Maleachi.

 

3.4.1  Aristoteles


3.4.1.1  Aristoteles, Politica, zitiert nach Reclam 2003


Sollte heutzutage jemand öffentlich das Gedankengut von Aristoteles zum menschlichen Wert von Frauen und Sklaven äußern, würde man ihm den Besuch eines Psychiaters anempfehlen.

Für mich ist nun wiederum die Bewertung des Gedankenguts von Aristoteles von ausschlaggebender Bedeutung über den Wert von Moral und Ethik. Darauf werde ich noch zurückkommen. Aristoteles liegt zeitlich zwischen dem Alten Testament und dem Neuen Testament, liegt also noch voll im Trend der numerischen Bewertung des Menschen. Dies zeigt sich in der unterkühlten kalkulatorischen Rationaliät, mit der er in Kapitel 3, 1253b die Ökonomie des Staates und des einzelnen Hauses beschreibt und feststellt, dass man über den Herrn und den Sklaven reden müsse, die sogenannte Herrenmacht.

Interessanterweise stellte er aber auch die Antithese derjenigen vor, die bereits damals von einer Gleichheit aller sprachen. Diese Gruppierung nannte er „die Anderen".

Dies liest sich dann so:

„Doch den anderen scheint das Herrsein gegen die Natur zu laufen. Der eine sei nämlich nur nach dem gesetzlichen Brauch ein Sklave und der andere ein Freier, der Natur nach gebe es aber keinen Unterschied. Daher sei derlei auch nicht gerecht, denn es sei gewaltsam.“

 

3.4.1.1.1  Erstes Buch, Kapitel 4, Der Sklave, 1254a


In Kapitel 4 beschreibt Aristoteles mit einer nüchternen betriebswirtschaftlichen Darstellung die Menschen, die das Eigentum anderer Menschen sind. Hierbei bezeichnet er den Sklavenmenschen als beseeltes Werkzeug, den der Hausverwalter eben zur Erfüllung seines Werkes und für ein gutes Leben benötigt.

„Weil nun der Besitz ein Teil des Hauses ist, so ist auch die Erwerbskunst ein Teil der Hausverwaltung, denn ohne das Notwendige ist sowohl das Leben unmöglich als auch das gute Leben. Wie es aber wohl für bestimmte Künste notwendig ist, dass dafür eigene Werkzeuge vorhanden sind, wenn das Werk fertig gestellt werden soll, so trifft das auch beim Hausverwalter zu. Von den Werkzeugen sind nun die einen unbelebt, die anderen belebt, wie etwa für den Steuermann das Steuerruder ein unbelebtes Werkzeug ist, der Untersteuermann aber ein belebtes; denn der Handlanger ist bei den Künsten zur Art des Werkzeuges zu rechnen. Auf diese Weise ist auch das Besitztum ein Werkzeug im Hinblick auf das Leben und der Besitz bedeutet nur eine Menge von Werkzeugen, und der Sklave ist eben ein belebtes Besitztum... ..Wer nämlich von Natur aus nicht sich selbst gehört, sondern als Mensch eben einem anderen, der ist von Natur aus ein Sklave..."

 

3.4.1.1.2  Erstes Buch Kapitel 5, Die Natur der Sklaverei, Aristoteles zur Gerechtigkeit des Sklavendaseins 1254b 

 

Aristoteles legt im Kapitel 5 nüchtern dar, dass die Sklaverei eine natürliche  Einrichtung sei und dieser Zustand für die Sklaven zuträglich und gerecht sei.

„Ob es aber einen Menschen gibt, der von Natur aus solcher Art ist, oder nicht, ob vielmehr jede Art der Sklaverei wieder die natur ist, darüber muss man nun hernach Überlegungen anstellen. Es ist jedoch nicht schwer, dies sowohl vernunftmäßig zu betrachten als auch aus dem heraus zu begreifen, was sich tatsächlich entwickelt. Denn das Herrschen und das Beherrscht werden gehört nicht nur zu den notwendigen Belangen, sondern auch zu den zuträglichen. Und zugleich von der Geburt her tritt einiges auseinander, das eine in Richtung auf das Beherrscht werden und das andere in die auf das Herrschen......Alle die freilich, die soweit voneinander entfernt sind, wie die Seele vom Körper und der Mensch vom wilden Tier -in dieser Situation befinden sich die alle, deren Arbeit im Umgang mit dem Körper besteht, und das ist denn auch die von ihnen am besten geleistete Arbeit-, alle diese sind von Natur aus Sklaven, für die es besser ist, unter dieser genannten Herrschaft zu stehen, so wie das bei den eben abgehandelten Beispielen der Fall war......Demnach hat nun auch die Natur den Willen, die Körper der Freien und die der Sklaven unterschiedlich zu schaffen, die einen kräftig im Hinblick auf den Umgang mit dem Notwendigen, die anderen aber hoch aufgerichtet und unbrauchbar für derartige Arbeitsleistungen....Dass demnach von Natur aus die einen Freie sind und die anderen Sklaven, ist offenbar; und für die Sklaven ist es zuträglich, Sklaven zu sein, und gerecht."

 

3.4.1.1.3  Erstes Buch, Kapitel 5, Die Natur der Sklaverei, Aristoteles zum Wert von Frauen 1254b


„Ferner aber ist die Beziehung des Männlichen zum Weiblichen von Natur aus so, dass das erstere das bessere ist, das letztere aber das schlechtere, das eine das Herrschende und das andere das Beherrschte. Auf dieselbe Weise nun muss es mit allen Menschen stehen."


3.4.1.1.4  7. Buch, 1333b, Krieg für Sklaven

 

 „Die Einübung in das Kriegshandwerk darf nicht deshalb betrieben werden, um Leute zu versklaven, die es nicht verdient haben, sondern um erstens selber nicht von anderen versklavt zu werden, zweitens um die Oberherrschaft zum Nutzen der Beherrschten zu suchen, doch nicht der Herrenherrschaft über alle wegen, und drittens um die Zwingherrschaft über alle die zu bekommen, die es wert sind, Sklaven zu sein."

 

3.5 Seneca


3.5.1 Seneca, Einleitung


323 Jahre nach Aristoteles kommen im 1 Jahrhundert mit Seneca nun erstmals moralische Bedenken über den bisherigen Umgang mit Sklaven auf.

Der Politiker und Philosoph fordert als erster einen menschlichen Umgang mit Sklaven, die er als gleichwertige Menschen ansah. Doch auch Seneca spricht sich nirgendwo explizit für die Abschaffung des Sklavenstandes aus. Zumindest darin scheint sich Seneca, der sich selbst nur am Rande mit dem Christentum auseinandergesetzt hat, mit Jesus einig gewesen zu sein. Seneca gibt es auch offen zu, selbst Sklaven zu besitzen, das war bei Besitzenden in der Antike einfach völlig normal. Das interessante ist eben, dass ihm nach eigenen Bekundungen die Sklaven nicht weniger wert waren als Freie, bis auf die ihnen vorenthaltene Freiheit eben.

 

3.5.2 Seneca, „De clementia", Über die Milde


Von anerkennenswerter Bedeutung sind sicherlich seine Äußerungen in seinem an Nero im Jahre 54/55 gerichteten antiken Fürstenspiegel, der Schrift „Über die Milde" (de clementia). Im ersten Buch vertritt er gegenüber Nero folgende Auffassung:„ Sich bei der Ausübung der Herrschaft über Sklaven zu mäßigen, verdient Lob. Auch im Falle eines Sklaven muss man nicht nur daran denken, wie viel er ungestraft ertragen kann, sondern auch, was unser natürliches Gefühl für Recht und Billigkeit zulässt, das von uns Schonung auch der Gefangenen und Gekauften fordert."

 

3.5.3 Seneca, Epistulae morales 47, Umgang mit Sklaven


Der bekannteste literarische Nachlass zu diesem Thema findet sich in den moralischen Briefen an Lucilius, epistula morales 47 ad lucilius. Dabei lobt er Lucilius, von dem er hört, in welch gutem Einvernehmen dieser mit seinen Sklaven zusammenlebt, um dann zu schildern, unter welch erbärmlichen Umständen diese normalerweise zu leben genötigt sind. Senecas Worte sind ein erster Schritt zu einem Miteinander hin.


Um in Seattles Worten zu sprechen, auch Senecas Gedanken sind wie die Sterne am Himmel, die nie vergehen, soweit er in epistula 47 (Umgang mit den Sklaven) schreibt:


„Zwinge Dich, ständig daran zu denken, dass der, den Du Deinen Sklaven nennst, gleichen Ursprungs ist wie Du, dass er sich an demselben Himmel erfreut, dass er wie Du atmest, lebt und stirbt. Wie Du in ihm den Freien, kann er in Dir den Sklaven sehen. .....Ich will mich nun nicht auf ein unerschöpfliches Thema einlassen und vom Umgang mit Sklaven sprechen, die wir so hochmütig, grausam und kränkend behandeln. Kurz zusammengefasst lautet mein Grundsatz: Gehe mit einem Untergebenen so um, wie Du wünschst, dass ein Höhergestellter mit Dir umgehe."

 

Mit diesen Worten, sich des gemeinsamen Ursprungs mit den Sklaven zu vergewissern, griff Seneca seiner Zeit weit, weit voraus. Literarisch bedeutsam auch die Mahnung, mit anderen so umzugehen, wie man es mit sich selbst auch wünscht.

 

Dies entstand in etwa zur gleichen Zeit wie die Goldene Regel des Kapitels 7 Vers 12 des Matthäusevangeliums. Die erste schriftliche Niederlegung des Matthäusevangeliums wurde im Jahre 63 gesichtet, Senecas moralische Briefe an Lucilius wurden nachweisbar in den Jahren 62 bis 65 veröffentlicht.


Er sprach auch an, wie er die Menschen bewertet, jedenfalls nicht nach der Tätigkeit, die jemand verrichtet, auch nicht nach Kleidung oder Stellung, sondern nach dem Lebenswandel.

 

3.5.4 Seneca, „de vita beata", Vom glücklichen Leben


In diesem seinem ältesten Bruder Gallio gewidmeten Schrift mahnt er an, die Freigebigkeit, also der Wille zum Schenken, nicht nur auf die Vollbürger zu beschränken.„Es ist für mich ein Gebot der Natur, meinen Mitmenschen zu helfen; was macht es da aus, ob es Sklaven oder Freie, Freigeborene oder Freigelassene sind, ob sie ihre Freiheit dem Gesetz oder dem Wohlwollen ihrer Freunde verdanken. Wo immer du Menschen triffst, hast du Gelegenheit, hilfreich zu sein."

 

3.5.5 Seneca, „de tranquillitate animi", von der Seelenruhe


Serenus, dem Präfekten der kaiserlichen Leibwache war diese Schrift gewidmet.Darin führt er aus, dass schwierige Lebenslagen entstehen können, an die man sich aber genauso gewöhnen könne, wie der Arbeitssklave an dessen Fußketten. Durch Gewöhnung könne man Gleichmut erlangen. Alle würde das Schicksal binden, die einen mit goldener, die anderen mit rostiger Kette. Dies konnte von strengen Sklavenhaltern natürlich auch falsch ausgelegt werden.

 

3.6 indische Philosophie


Auch die sogenannte sanfte Philosophie aus dem indischen Bereich ging von den unterschiedlichen Werten der Menschen aus. Dies sowohl rassisch als auch in der Unterscheidung Mann und Frau.

 

3.6.1  Dies begann im sogenannten vedischen Zeitalter (1500-500 v.Chr.).


Nach der sogenannten Hymnenzeit entstand etwa in der Zeit der Opfermystik das Kastenwesen. Damit hat sich die indoarische Rasse von den Urbewohnern, den Aryas und Tschudras abgegrenzt. Unter diesen standen noch die Parias, Kriegsgefangene, Sklaven etc. Aus diesen sind die Unberührbaren hervorgegangen. Diese und deren Lebensverhältnisse war schließlich viel später einer der Ausgangspunkte für den Kampf Ghandis. Auch die Hauptbegriffe der Upanischadenzeit, Brahman und Atman, Seelenwanderung und Erlösung änderten überhaupt gar nichts an der entwürdigenden Entwertung und entmenschlichter Behandlung weiter Teile der damaligen indischen Bevölkerung.

 

3.6.2  nicht- orthodoxe Systemen ( 500 v.Chr.-1000 n.Chr ), Nastikas = Neinsager zu den vedischen Überlieferungen


Große Hoffnung hätte bestanden in dem Übergang vom vedischen Zeitalter zu nicht orthodoxen Systemen. Leider blieben Ansätze, das Fragenstellen an sich, in den etwa gleichen Denkmustern wie bei den hellenistischen Vorsokratikern hängen, schöne Wort ohne Auswirkungen. Weder die Charvakas noch die Jainas noch Buddha unternahmen das Geringste zur Abschaffung des Kastensystems. Buddahs praktische Ethik der 5 Lebensregeln halbierte die Zahl der 10 Gebote (1. Töte kein Lebewesen, 2. Nimm nicht, was dir nicht gegeben, 3. Sprich nicht die Unwahrheit, 4. Trinke keine berauschenden Getränke, 5. Sei nicht unkeusch). Ansprechende Vorgaben und schöne Gedankengebilde, die allesamt nicht zu einer Erkennung des Wertes aller Menschen führten.

 

3.7 Sklaverei in Europa und Amerika


Der Mensch war aber auch in den nächsten Jahrtausenden williger Wertschöpfungsfaktor. Die im großen Stil durchgeführte Sklaverei war dann die Verbringung von Millionen afrikanischer Sklaven nach Amerika. Der Höhepunkt der Sklaverei war das frühe Industriezeitalter. Zur Zeit der Abschaffung in den USA durch die Emanzipationserklärung Lincolns im Jahre 1865 sollen dort über 4 Millionen Sklaven gelebt haben. Anderseits bildetete sich in Amerika im Jahre 1787 auch die„Society for Effecting the Abolition of Slavery" (Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei).

Durch alle Zeiten hinweg wurden Sklaven in West- und Osteuropa Leibeigene genannt, die sich in der Eingriffsschwere gegenüber der heutigen Menschenwürde nur geringfügig von den Sklaven unterschieden. Die Leibeigenschaft wurde in Frankreich 1794, in Österreich 1848, in Baden 1783, in Württemberg 1817 und in Preussen 1810 abgeschafft.

Wie wirkt sich dies auf die Bewertung aus, war der Mensch plötzlich humaner im Sinne eines gereiften Humanismus oder geschah dies aus Zwang.

 

3.7.1 Sklaverei und die Kirche


Eine besondere Betrachtung ist für die Gruppierung erforderlich, die sich „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" in ihr selbstgeschaffenes Stammbuch eingeschrieben hat, die katholische Kirche. Das Ergebnis, welches überrascht, ist geradezu aberwitzig. In der päpstlichen Flotte gab es noch bis 1724 Sklaven.1761 hat Portugal die Sklaverei abgeschafft, in den Kolonien hat sie jedoch noch bis 1854 gedauert. Die Kirche hatte die eigenen Sklaven dann noch 2 Jahre länger behalten und erst 1866 freigelassen Der Imperativ der Bergpredikt galt anscheinend nicht für Sklaven. Noch im Jahre 1866 ließ das römische Offizium verlauten, dass die Sklaverei nicht im Gegensatz zum natürlichen oder göttlichen Gesetz stehe.

 

3.7.2 Der Wert des Menschen im Industriezeitalter

 

Mit dem starken Anwachsen der Bevölkerung zogen viele Menschen in die Städte, wo sie sich bessere Lebensbedingungen versprachen. Dadurch konnten aber die Arbeitgeber die Löhne auf ein Minimum senken. Die Erleichterungen der Industrialisierung hatte das Elend der Arbeiter geboren, Frauen und Kinder mussten mitarbeiten. Der Leibeigenschaft hatte eine moderne Sklaverei Platz gemacht. Dem herrschenden Großbürgertum war der neue Mensch, der im Industriezeitalter seinen Platz suchte, nun alleine wegen des zwischenzeitlich erschienenen Aufklärungszeitalters nicht etwa mehr wert als der Sklave oder Leibeigene den früheren Adligen. Im Grundsatz blieb alles beim alten, der Mensch war immer noch Multiplikator für noch mehr Geld, Einfluss und Macht.

 

3.8 Der Tod meiner Mutter


Der Tod meiner Mutter war -wie eingangs erwähnt- die Initialzündung für meine Gedanken um Alter, Tod, Vergänglichkeit und zur Frage, was der Mensch wert ist. Diese Dynamik begann sich bei den Vorbereitungen zum Begräbnis zu entwickeln. Da wurde mir klar, dass der Tod meiner Mutter, explizit der Leichnam, für die Aussenwelt plötzlich etwas wert war. Eine Aussenwelt, die nur am Rande mit meiner Mutter verknüpft war, insofern, als die Bewohner des Gebietes X eben Bestandteile einer gemeinsamen Sozialisation waren, ohne dass die Individuen sich im Leben gegenseitig gewahr wurden. Ja, vielleicht stand der Steinmetz an der Kasse eines Supermarktes mal hinter meiner Mutter, vielleicht auch nicht.

Nun war sie aber etwas wert, jetzt, erst nachdem sie die Augen geschlossen hatte, das Herz aufhörte zu schlagen und sich ihr in 8 Jahrzehnten angesammeltes Wissen im Universum verlor.

Für das Urnengrab war meine Vorgabe ein Granitblock in einer Breite von höchstens 50 cm und eine Höhe von mindestens 12 Zentimeter. Die Anfrage an einen Steinmetz ergab einen Preis von 1100 Euro für den Stein und 400 Euro für die Beschriftung. Der Steinmetz gab sich alle Mühe, sein Produkt bei mir als vorteilhaft erscheinen zu lassen. Tja, der Leichnam der Person, die mich 9 Monate in ihrem Leib hatte, war immer noch Teilnehmer am Bruttosozialprodukt, schickte sich an, Faktor einer volkswirtschaftlichen Wertschöpfung zu werden. Aber ich bin nicht so, wie mich meine Mitmenschen haben wollen.

Bei einigen Gegebenheiten blitzt bei mir wohl der Anarchismus eines Max Stirner durch, so dass ich die Summe von 1500 Euro zutiefst als Wucher und Beleidigung von mir und posthume Beleidigung meiner Mutter, die immer ein bescheidenes Leben führte, empfand.

Also lehnte ich ab und beschloss, meine Mutter mit einem eigenen Werk, einem selbstgemachten Grabstein zu ehren. In einem Baumarkt erwarb ich eine Treppenblockstufe aus Granit in den Abmessungen 50/35/15, die mit den Steinen beim Steinmetz nahezu identisch war. Der kleine Unterschied war, dass ich dafür 19,90 Euro bezahlte. Eine Edelstahlplatte hatte ich von einem früheren Schrottplatzbesuch noch selbst. Nachdem ich diese auf Hochglanz poliert hatte, ließ ich in einem Geschäft für 29,90 Euro eine thermische Laserbeschriftung aufbringen. Dann dübelte ich die Platte auf den Stein und legte diesen auf das Grab. In einem Gespräch mit einer mir bekannten Person, erzählte ich, dass der Grabstein mit Beschriftung 49,80 Euro statt 1500 Euro gekostet hätte. Dies hatte die Antwort zur Folge, ob mir denn meine Mutter nicht mehr wert sei.

Was war da passiert, ich wurde stigmatisiert. Ein Stigma ist ein Zeichen für Schande. Laut Zimbardo, dem Psychologiepapst, ist das Stigma eine Ansammlung von negativen Eigenschaften, die eine Person als inakzeptabel ausgrenzen. Damit meine ich mich, ich entsprach nicht den Paradigmen von X, nämlich dass ein Grabstein teuer sein müsste, deshalb überfrachtete er mich mit einer abfälligen Bemerkung. Interessanterweise hat diese Person seine Eltern bereits früh und ohne Not ins Pflegeheim abgeschoben.

Das Ganze ist soziologisch durchaus interessant, der Begriff Wert scheint linear mit dem Adjektiv „teuer" zu korrelieren. Je teurer etwas ist, desto mehr Wert entsteht daraus. So bewahrheitet sich auch die alte Weisheit mal wieder, nämlich „Kleider machen Leute". Den äußeren Schein gilt es aufrechtzuerhalten. Ob indes das Verhältnis der Menschen würdevoll und von Achtung geprägt ist, ist nicht so wichtig.

Nebenbei bemerkt, ich würde es genau so wieder machen, die Meinung der viel zu Vielen, explizit des „deutschen Michels“ interessiert mich in dieser Angelegenheit nun wirklich herzlich wenig.

 

3.9 Der Wert des Menschen und die Schlussfolgerung für Moral und Ethik


Mit der Frage an einen Mitmenschen, ob er denn die Moral und die Ethik für gut halte, beantwortete er dies mit ja. Ein Hinterfragen erbrachte das für mich nicht verwunderliche Ergebnis, dass er die Begriffe überhaupt nicht erklären konnte.

Die ist ein Beispiel, wie Begriffe besetzt werden, oft gibt es nur die Wahl im Sinne des manichäischen Gut-Böse Dualismus.

So wie für das Kind süß auch gut bedeutet, wird in der Moral etwas Gutes und in der Unmoral etwas Schlechtes gesehen. Was ist aber indes das Wesen der Moral? Kann man sie mit Vernunft, dem Nachdenken erschließen? Ganz offensichtlich gelingt es nicht , sie nur mit Hilfe der Vernunft zu erkennen, wir kennen sie nur als Erscheinung (phänomena), also wie sie uns gerade erscheint.

In einer hypothetischen Ausgangslage nehmen wir an, die Moral würde sich farblich ausdrücken lassen. Ein Weltraumastronaut richtet gerade das Sonnensegel der Sonde neu aus. In dem Moment des Öffnens der Raumschiffluke sieht er den runden blauen Ball. Aus diesem Blickwinkel assoziiert sich terra wohl als rund, blau, schön, als Einheit jedenfalls. Je weiter sich aber der Blick fokussiert, desto mehr vereinzeln sich Subjekte und Objekte.

Der kleine Mensch verliert sich in den -versinnbildlicht ausgedrückt- verschiedenfarbigen Ethik- und Moralvorstellungen seines Kulturgebietes.

In einem Teil der Welt sind die Hunde die besten Freunde der Menschen, woanders Nahrungsmittel. Der Homo stultus ist auch bereit, zur vermeintlichen Verteidigung irgendwelcher abstrusen Wahrheitsideen Kriege zu führen, zu vernichten und zu töten.

Eben diese Fokussierung offenbart punktgenau die bedingte Werthaltigkeit der jeweils herrschenden Ethik und Moral. Je nach Sichtweise kann sie alles oder auch nichts wert sein. Sie ist, wo sie ist und sie ist wie sie ist und sie wandelt sich. Das ist alles, mehr nicht. Diejenigen, die eine vermeintlich aktuelle Ethik und Moral vertreten haben, werden - um in der aurelischen Denkweise zu schreiben- morgen hinausgetragen, wenig später werden die Träger hinausgetragen. So tritt die Wandlung ein, bis auch die Moral zu den Vergessenen und Hinausgetragenen gehört und Platz macht.